Wien. Der Multikünstler über sein „Reflektor“-Festival in der Elbphilharmonie und was sonst in seinem Leben geschah. Ein Ortstermin in Wien.
Kunstfurzen ist nicht. Das geht sich dieses Mal nicht aus, wie der Österreicher so sagt. Und was hat John Lennon mit einem seiner Schnürsenkel an Schuberts Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof angestellt? Zur Auflösung dieser Rätsel später mehr. Denn dem Wiener Weltbürger-Gesamtkunstwerk André Heller kommt man womöglich einfacher nahe, indem man zunächst einige leicht verwirrende Runden um seine schillernde Einzigartigkeit herum dreht. Dort abwartet, bis sich die Nebel lichten und einem dann alles fast völlig normal vorkommt.
„Man ist ja alle paar Monate ein anderer.“ Dieses schöne, leichte Schwindelgefühl, aus so vielen ganz großen Namen, vielen großen Überraschungen und vielen kleinen Anekdoten zusammengewirbelt, den das auslöst – genau das ist sein Programm, sein Markenzeichen. So war das immer schon, egal, in welcher Kultur-Disziplin Heller weltweit freischürfend unterwegs war und nach wie vor ist.
„Vor allem darf ich mich nicht an die künstlerischen Vorstellungen anderer halten, sondern an das, was mein Talent einmahnt. Und das ist oft ziemlich merkwürdig. Dann wundere ich mich: Wo kommt das jetzt her?“, fragt Heller mittendrin sich und das Gegenüber und sagt irgendwann im Laufe der gemeinsam verplauderten Stunde auch noch: „Ab meinem 45. Lebensjahr war ich nur mehr daran interessiert, mich lernend zu verwandeln. Ein anderer zu werden, der weiße Flecken auf der Landkarte seines Wissens tilgt.“
Elbphilharmonie: Neun Tage lang wird Heller das Konzerthaus als Wundertüte inszenieren
Am 22. März wird Heller 77 Jahre alt, da kommt einiges an Erkenntniszuwachs zusammen. Am 16. März bereits öffnet sich seine Wundertüte in der Elbphilharmonie. Neun Tage lang, mit knapp zwei Dutzend Veranstaltungen wird Heller das Konzerthaus mit einem „Reflektor“-Festival einmal gründlich durchhellern. 60 Termine hätte er sicher auch zusammenbringen können, meint er, das lässt sich mühelos vorstellen. Doch auch der jetzige Programmumfang zeigt die Heller-typische Handschrift.
Mit einigen sehr abenteuerlichen und anderen sicher sehr rührenden Konzerten, die er kuratiert, sowie sehr speziellen Gesprächs-Dokus, die er im Laufe der Jahrzehnte gedreht hat. Mit Kunst-Projektionen im Foyer (Bilder aufhängen? Schwierig, bei den vielen ungeraden Wänden). Und als Finale, ganz unbescheiden etikettiert, die All-Stars-Sause „Die Besten aus Wien“, die bringt – auch wörtlich zu verstehende – Lokal-Größen wie den Voodoo Jürgens, die Anna Mabo oder den Ernst Molden. Ein Update des Traditionsformats namens „Wiener Lied“, das alle paar Jahre wieder von Schmäh-Profis liebevoll neu erfunden und in die nächste Tresentruppe weitervererbt wird. Heurigen wird dazu es aber wohl nicht geben. Leider auch keinen Würstlstand mit „a Eitrige und a 6er-Blech“ (Käsekrainer-Bratwurst plus Dosenbier) als Absacker auf dem Konzerthaus-Vorplatz wie in Wien bei der Staatsoper. Es könnte aber durchaus sein, dass es Heller überkommt und er bei dem Wiener Großfamilientreffen womöglich doch noch einmal singend mittut.
- Charly Hübner singt: „Etwas, was ich gar nicht kann“
- „Warum sollte ich mit Dingen werfen?“
- Elbphilharmonie: Fiese Verbal-Backpfeifen bei besonderem Konzert-Format
Camilla Nylund singt Klassiker aus dem American Songbook
Ausgeredet bei der Programm-Planung habe ihm die Elbphilharmonie-Chefetage nichts, „die waren unglaublich liebevoll und haben mir vertraut“. Also, anschnallen, Herrschaften, hereinspaziert in diesen Hellerschen Vergnügenspark: Der Groß-Philosoph Peter Sloterdijk und der Bariton Florian Boesch reden zum Reinkommen in das von Karl Valentin geborgte Festival-Motto „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“ über Schuberts „Winterreise“; spirituelle Musik aus Marokko und Pakistan; der aus 20 Finnen bestehende Schrei-Chor „Mieskuoro Huutajat“ brüllt Nationalhymnen als Kontrast zur feinverwebten Vielstimmigkeit bulgarischer Volkslieder.
Die konzertscheue Songwriter-Legende Jimmy Webb tritt auf; Camilla Nylund, ansonsten auf Wagner und Strauss-Hauptrollen abonniert, singt Klassiker aus dem American Songbook und daneben und dazu Angélique Kidjo Afrikanisches.
André Heller nannte sein Festival-Programm ein „Bouquet der Merkwürdigkeiten“
Hellers Film-Porträt erinnert an die furchtbar zerbrechliche Opern-Diva Jessye Norman. Hier die nächste Anekdoten-Schleife: La Norman hat er 2002 in Paris in Schönbergs „Erwartung“ inszeniert und Poulencs „La Voix Humaine“, erinnert Heller sie wehmütig. „Ihre überirdische Stimme kam direkt aus ihrer Seele.“ Um sie trotz ihrer Premieren-Ängste aufrechtzuerhalten, hielt er vom Bühnen-Seitenrand aus ihre Hand und wohl auch sie damit aufrecht. Nach dem Ende der Vorstellung beobachtete er, wie Norman, ganz für sich, in den Kulissen saß und Aufregung und Anstrengung ausdampfte wie ein Rennpferd.
Thomas Bernhards Halbbruder sprach in einer Doku über seinen Halbbruder. Die Schauspiel-Legende Gert Voss in einer anderen mit Harald Schmidt über sich, das Schauspielen an sich und überhaupt. Dazu, unter anderem, eine „Jewish Music Night“ mit Musik aus etlichen Himmelsrichtungen und der Soweto Gospel Choir aus Südafrika. Marokkanisches und Mauretanisches. Die Programmpunkte bilden ein Mosaik aus Solitären, bei dem lückenlose Passgenauigkeit kein Ziel sein dürfte. Heller nannte es launig ein „Bouquet der Merkwürdigkeiten“, das dürfte nicht arg übertrieben sein.
Den Begriff „verhellern“, das bekundet der Zusammenträger schon kurz nach Beginn unseres Gesprächs, den kann er für diese aberwitzige Melange aber nicht recht goutieren. „Erfahrungen sind mir ein Grundnahrungsmittel und natürlich Ausdruck meiner Interessen“, erklärt Heller. „Sie geben mir die Farben, die ich bin.“ Da Heller als Wiener kritische Anmerkungen auch mit perfekt gezwirbeltem Schmäh dekorieren kann, wirkt alles aber gleich halb so wild.
André Heller: „Meine Neugier wird derzeit mit zahllosen Herausforderungen verwöhnt“
Um die Sitzgruppe herum ist sein Salon mit Kunst aus diversen Jahrhunderten und Weltregionen tapeziert und zugestellt, darunter auch ein Porträt des jüngeren André Heller von Andy Warhol. Zwei Häuser neben Hellers Wohnung – nur einige Sachertorten-Würfe vom Stephansdom entfernt – beglückt ein verranztes Café seine Stammkundschaft mit Kaffee und Klassikern von Bob Dylan. Vor dem Audienzbeginn telefonierte dort ein Mann sehr laut mit jemandem, mit dem er dringend am Telefon besprechen will, dass jetzt überall so viele Telefonate abgehört würden und deswegen könne er jetzt auch nicht mehr darüber am Telefon sagen. Wien halt (und zu Dylan kommen wir auch noch).
Was aber nicht heißt, dass Heller für Hamburg eine musikalische Dauerwerbesendung über seine hassgeliebte Geburtsstadt entworfen hat, au contraire. Nicht ohne Grund steht als Vita auf seiner Homepage ein Satz, den man sich hart erarbeiten muss: „André Heller lebt in Wien, in Marrakesch und auf Reisen.“
Heller plant gerade einen Park in Wien
Einer von vielen seitdem legendären Spektakel-Zwischenstopps legte Heller 1987 auf der Hamburger Moorweide ein, sein Sensations-Jahrmarkt „Luna Luna“ lockte Zehntausende, jede Menge internationale Künstler – Größen wie Hockney, Lichtenstein oder Miles Davis – haben damals bemalt, komponiert und sich wunderbar Surreales ausgedacht. Eine der Hauptattraktionen war der von Manfred Deix mit feixenden Dickwanst-Abbildungen ausgestattete „Palast der Winde“. Kunstfurzen also, schau, da ist es wieder. Aus, vorbei, leider.
Die „Luna Luna“-Show wurde später im Stück verkauft, in 44 Container verpackt, irgendwo, fast vergessen, in Texas geparkt und erlebt inzwischen aber eine glamouröse Renaissance in Los Angeles. Der Rapper Drake hat sich diesen Spaß für eine sehr amtliche Summe gegönnt und daraus eine museale Show gemacht. Anfassen oder gar mitfahren wie bei der ersten „Luna Luna“-Runde ist inzwischen streng verboten. Als Andenken werden dort auch originale Keith-Haring-Plakate für knapp 1800 Dollar angeboten. Natürlich freut sich Heller stolz über diese Wiederauferstehung, sagt aber auch: „Ich habe damit organisatorisch nichts zu tun. Vor 36 Jahren war es meine Verwirklichung und mein Kind. Jetzt haben Drake und seine Freunde es dankenswerterweise gekauft und in L.A. der Öffentlichkeit erfolgreich zugänglich gemacht.“ Heller ist schon jahrzehntelang ganz anderswo, plant gerade einen Park in Wien, einen in Brixen, und dann muss auch wieder ein Film fertig werden. „Meine Neugier wird derzeit mit zahllosen Herausforderungen verwöhnt.“
André Heller: „Man darf den Erfolg nicht mit sich selber verwechseln“
Hellers literarischer Erstling „Schattentaucher“ von 1987, skurrile, liebevolle Momentaufnahmen aus einem sehr wienerischen Wien, ist gerade neu aufgelegt worden. Der „Standard“ hatte ihm vorgeschlagen, sich dazu aus der Sicht seiner Hauptfigur selber zu interviewen. Wie schwer es ist, nicht größenwahnsinnig zu werden, wenn man außer dem einen oder anderen Papst (Heller korrigiert diese Vermutung: Papst Franziskus) und Elvis so ziemlich jeden getroffen hat? „Na ja … Das stand ja auch in diesem Selbstinterview drin: Man darf den Erfolg nicht mit sich selber verwechseln. Wenn man berauscht ist von dem, was die äußere Welt einem spiegelt – outet man sich als Dummkopf.“
Fehlt noch der John Lennon. War damals in Wien gewesen, im Sacher, mit der Yoko Ono, hat dort nackt unter einem Leinentuch eine Pressekonferenz inszeniert. Heller fragte ihn, was sein Verhältnis zur englischen Königin sei, Lennon habe die berühmt gewordene Antwort gegeben: „Ich habe mehr für den Frieden getan als die englische Königin.“ Große Aufregung, klar. Am nächsten Tag zwei Stunden mit Lennon geredet, danach sollte es zügig zum Flughafen gehen, und damals ging die Fahrt dorthin vorbei am Zentralfriedhof. „Das musikalische Epizentrum toter Weltkomponisten, und er hat gesagt, das ist sehr interessant.“ Stehen bleiben? Ja, gern, gemeinsam schnell hin zu Schuberts Grab. „Schau, da ist der Schubert, das ist ja ein genialer Vorgänger von dir. Und dann hat er etwas sehr Berührendes gemacht. Er hat aus seinem Turnschuh ein Schuhband herausgenommen und es aufs Grab gelegt, statt Blumen. Ein unvergessliches Erlebnis.“
André Heller wünscht sich Bob Dylan in einem seiner Programme
Und noch einer fehlte, bis hierhin. Der Dylan. Käme die Wunschfee hernieder, und Heller könnte sich jemanden vom himmlischen Zentralfriedhof aussuchen, für ein Comeback in einem seiner Programme? Die Frage ist noch nicht ganz ausgesprochen, da kommt schon ein „... Bob Dylan … “ zurück. Der lebt zwar noch, aber: „Der ist ein Heiliger, nicht von der Lebensführung, sondern von der künstlerischen Qualität her.“ 2006, bei der für die WM-Eröffnung geplanten Gala in Berlin, habe er ihn ja auch schon gehabt. Dass diese Gala abgesagt wurde, weil der Rollrasen im Stadion Probleme bereitete? Künstlerpech, verdammtes, riesiges. Aber Heller sucht sich nach solchen Nackenschlägen durch das Schicksal einfach immer wieder das nächste beste Künstler-Glück.
„Reflektor“-Festival: 16.3 bis 24.3., Infos: www.elbphilharmonie.de Buch: André Heller „Schattentaucher“, neu veröffentlicht (Zsolnay, 176 S., 24 Euro). Die Reise nach Wien wurde unterstützt durch die Elbphilharmonie.