Hamburg. Ein finnischer Chor hinterlässt gewaltigen Eindruck, der bulgarische Gegenpart findet kein Ende, und Weltklasse-Jazz gibt es auch.

Die Gegensätze könnten am zweiten Abend des von André Heller kuratierten „Reflektor“-Festivals kaum größer sein. Im Großen Saal der Elbphilharmonie trifft der finnische „Chor der schreienden Männer“ auf The Bulgarian Voices Angelite. Künstlerische Auseinandersetzung mit dem Lärm – Heller nennt es in seiner kurzen Begrüßungsansprache „Lärm, der den Lärm zerlärmt“ – begegnet an diesem Abend der Kontraste einem der zartesten Vokalensembles der Welt. Der Papst soll über die Gruppe aus Osteuropa gesagt haben: „Gute Engel würden singen wie sie.“

Reflektor André Heller: Wenn Finnen in der Elbphilharmonie herumschreien

Vorab ist besonders über die finnischen Kerle viel berichtet worden, dementsprechend gespannt ist das Publikum in der nicht ganz ausverkauften Elbphilharmonie auf den Auftritt von Mieskuoro Huutajat, übersetzt „Männerchor Die Rufer“.

Wer erwartet hat, dass eine Reihe abgerissener und durchgeknallter Gestalten wie aus einem Kaurismäki-Film die Bühne betritt, sieht sich getäuscht. In uniformen dunklen Anzügen schreiten die Männer auf die völlig leere Bühne und stellen sich in 14 projizierte Lichtkegel. Als letzter kommt Dirigent Petri Sirviö herein, ein Typ mit verstruppelten Haaren und einem Drumstick in der Hand, der ihm als Dirigierstab dient. Dann setzt das Schrei-Inferno ein. Die körperliche Anstrengung bei diesen präzisen Brüll-Attacken ist zu sehen, die Adern an der Halsmuskulatur treten hervor, wenn die 33 Schrei-Finnen den Anweisungen ihres Dirigenten folgen.

Der gewaltige Chor hinterlässt gewaltigen Eindruck

Sirviö erklärt jedes der kurzen Stücke, die in allen möglichen Sprachen herausgeschrien werden. Die Moderationen des Chorleiters sind ebenso lustig wie die genau choreografierten Darbietungen des Ensembles. Das begeisterte Publikum versteht zwar von den rudimentären Texten kaum etwas, aber das ist egal. Erst, als zum Ende des 45-minütigen Auftritts deutsches Liedgut durch die Mangel genommen wird, sind Wörter wie „Freude“ und „Donau“ zu erahnen. Der gewaltige Chor hinterlässt gewaltigen Eindruck, das Publikum erklatscht sich zwei Zugaben.

In hartem Kontrast zu Mieskuoro Huutajat steht das bulgarische Ensemble Angelite. In farbenträchtigen Trachten schreiten die 20 Frauen auf die Bühne und betören das Auditorium mit ihren obertonreichen zarten Gesängen. Mit geschlossenen Augen kann man sich der Reinheit der Gesänge hingeben, Vibrato fehlt diesen Stimmen völlig.

Farbenprächtige Kostüme, zarter Gesang: The Bulgarian Voices Agelite in der Elbphilharmonie.
Farbenprächtige Kostüme, zarter Gesang: The Bulgarian Voices Agelite in der Elbphilharmonie. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

Schön wäre es, von der Chorleiterin Katya Barulova etwas über die ausgewählten Songs zu erfahren. Doch statt Erklärungen zu geben, sonnt sich Barulova nach jedem Lied etwas zu sehr im Beifall des Publikums und findet auch kein Ende. Statt der geplanten 45 Minuten dauert der Auftritt 70 Minuten. Es fehlt an Abwechslung, letztlich reiht sich nur Lied an Lied. Immer mehr Zuhörer verlassen den Saal, das Aufblenden des Saallichts signalisiert Barulova, dass es Zeit ist, das Konzert zu beenden.

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Bereits vor dem Vokalkonzert hat der zweite Tag dieses André-Heller-Festivals mit einem außergewöhnlichen Jazzkonzert im ausverkauften Kleinen Saal der Elbphilharmonie begonnen. Statt des erkrankten Saxofonisten Archie Shepp (86) präsentiert Heller mit Famoudou Don Moye einen der herausragenden Schlagzeuger des zeitgenössischen Jazz. Begleitet wird er von dem französischen Trompeter Christophe Leloil und dem Multiinstrumentalisten Simon Sieger, der sich auf Klavier, Orgel und Posaune gleichermaßen virtuos erweist.

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Don Moye hat Sieger bei Konzerten mit seinem Art Ensemble Of Chicago entdeckt und musiziert jetzt häufiger mit diesem hochtalentierten Franzosen. Das Konzert des Trios ist ein Streifzug durch die Geschichte des Jazz von New Orleans bis zu urbanem Free Jazz und Ausflügen in die Gesänge und Polyrhythmik afrikanischer Musikkultur. „Weltklasse“, raunt ein Zuhörer nach einem Solo von Don Moye und bringt die Qualität des Auftritts auf den Punkt.

Refektor André Heller läuft bis zum 24.3., Programm unter www.elbphilharmonie.de