Hamburg. Von majestätisch bis mitreißend: Der Beginn des von André Heller kuratierten Reflektor-Festivals in der Elbphilharmonie.

Von außen betrachtet, war an diesem März-Wochenende alles normal an, neben und auf der Elbphilharmonie: Touristenschlangen, die im noch ungewohnten Sonnenlicht für die Plaza Schlange stehen, jede Menge Handyfotos und staunende Gesichter. Wahrzeichen-Alltag. Im Inneren aber begann eine Ankündigung von André Heller für sein einwöchiges Reflektor-Festival stundenlang wahr zu werden: „Lauter Eindrücke, die nicht zusammenpassen. Und je weniger sie zusammenpassen, desto besser.“

Wie passend also, dass die ersten Sätze, mit denen sich diese Wundertüte am Sonnabendnachmittag öffnete, typische Sätze der in jeder Hinsicht überlebensgroßen Sopranistin Jessye Norman waren. Heller hatte sie 2008, elf Jahre vor ihrem Tod, bei diversen Audienzen entgegengenommen. Dieses Porträt bildete den Auftakt zu einer kleinen Dokumentarfilm-Werkschau im Kaistudio, als Sättigungsbeilage zu den Musik-Events in den beiden Sälen.

Elbphilharmonie: André Hellers erste „Reflektor“-Überraschungen

Keine drei Minuten dauerte es dort, bis Norman – ganz die Diva, ganz Ihre Majestät – stilsicher entrüstet zurückwies, sie sei als Künstlerin im Umgang extrem schwierig, bloß weil sie beispielsweise genaue Forderungen fürs Reinigen von Bühnenböden oder exakte Wasserwünsche in ihrer Garderobe äußerte: „Warum sich damit begnügen, nur mittelmäßig zu sein? Warum etwas nur halb tun!?“ Großartig, ihr zutiefst selbstverständlicher Blick dabei.

Heller blieb immer ganz nah dran an diesem sensationellen Gesicht. Nur keinen Moment der Tonbildung, der Textausdeutung, der Kunstgestalt-Schöpfung verpassen bei den bildstark inszenierten Gesangspassagen, die alles zeigen, was Norman – gehüllt in Miyake-Roben oder wie eine afrikanische Königin inszeniert – konnte und sang wie keine andere, von Schuberts „Erlkönig“ bis zu Wagners Isolde. Natürlich fehlten bei diesem Best-of-Schnelldurchlauf auch Strauss‘ „Vier letzte Lieder“ nicht.

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Bis kurz vor Ende des 90-Minüters blieb Heller als Gegenüber und Stichwortgeber stumm, konsequent unsichtbar, um erst dann zielsicher aus dem Off ein entscheidendes Lebensthema dieser Künstlerin anzufragen: diesen hochdramatischen Unterschied zwischen „alone“ und „lonely“, zwischen allein und einsam. Norman blieb auch da gefasst und verabschiedete sich in fein ziseliertem Deutsch mit Zeilen aus einem Rückert-Lied von Mahler: „Ich leb‘ allein in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied … Schöner gibt’s nicht.“

Die österreichische Künstlerin Xenia Hausner hat für André Heller die Bühnenbilder für eine „Rosenkavalier“-Inszenierung in Berlin entworfen. Beim Reflektor-Festival wurden Arbeiten von ihr auf die Wandflächen des Foyers vor dem Großen Saal projiziert.
Die österreichische Künstlerin Xenia Hausner hat für André Heller die Bühnenbilder für eine „Rosenkavalier“-Inszenierung in Berlin entworfen. Beim Reflektor-Festival wurden Arbeiten von ihr auf die Wandflächen des Foyers vor dem Großen Saal projiziert. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

Von dieser Heiligenverehrung zum „psychodynamischen Kraftfeld von Müller bis Nietzsche“ zieht sich ein weites Feld – aber darunter macht es ein Breitwand-Philosoph wie Peter Sloterdijk kaum. „Das Fremdeln an sich und überhaupt, unter besonderer Berücksichtigung von Schuberts ,Winterreise‘ im Gestern und Heute“ war wohl in etwa das Thema seines Selbstgesprächs mit Musikanteil durch den Bariton Florian Boesch im Kleinen Saal. Das Fremde vor allem in der Fremde ist das Leitmotiv von Hellers facettenreicher elbphilharmonischer „Reflektor“-Anrichtung, und die Idee, bei einer Probensimulation mit klug gemeinten Fragen, Ansichten oder auch nur launigen Philosophieseminar-Kalendersprüchen und Namedropping zu intervenieren und erhellend zwischen die Lied-Textzeilen zu gehen, die hatte theoretisch durchaus ihren Reiz.

Peter Sloterdijk wollte es bei seinem Nachdenken über Schubert lieber umständlich

Der Philosoph Peter Sloterdijk (l.) und der Bariton Florian Boesch diskutierten über das Fremde und Schuberts „Winterreise“ einseitig wortreich aneinander vorbei.
Der Philosoph Peter Sloterdijk (l.) und der Bariton Florian Boesch diskutierten über das Fremde und Schuberts „Winterreise“ einseitig wortreich aneinander vorbei. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

Praktisch allerdings war es durchaus mühsam, Sloterdijk beim Mäandern um den sprichwörtlichen Pudding herum folgen zu sollen. Vieles wäre tatsächlich ganz einfach aus Schuberts Liederzyklus herauszuhören oder hineinzugeheimnissen. Die wenigen Fragen, die er, immer drittelernst auf das nächste Publikumskichern abzielend, stellte, beantwortete Sloterdijk dozierend und weit ausholend ausdrücklich: nicht. Er wollte es gern eher umständlich, und es bewahrheitete sich also, wenn auch anders als wohl gedacht, das gern genommene Thomas-Mann-Zitat von der Musik als „dämonischem Gebiet“. Wie schön, dass das kluge „Winterreise“-Buch des Tenors Ian Bostridge (anders als Sloterdijks Gastspiel) keine Fragen dazu offen und sich weniger erschöpfend lesen lässt.

André Heller, Konzeptgeber des gut einwöchigen Reflektor-Festivals, begrüßte zum Auftakt das Publikum im Großen Saal.
André Heller, Konzeptgeber des gut einwöchigen Reflektor-Festivals, begrüßte zum Auftakt das Publikum im Großen Saal. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

Draußen wurde es unterdessen Abend. In den Foyers des Großen Saals verzierten Bilder der Xenia Hausner wie digitale Gobelins an den nirgends planen Wänden die Architektur; auf die Kaispeicher-Fassade wurden Begriffe wie „Liebe“, „Staunen“, „Schönheit“ oder „Glück“ als Begrüßung und Einladung der Außenwelt projiziert.

Die marokkanische Musikerin Hind Ennaira präsentierte im Großen Saal der Elbphilharmonie Gnawa-Musik aus Marokko.
Die marokkanische Musikerin Hind Ennaira präsentierte im Großen Saal der Elbphilharmonie Gnawa-Musik aus Marokko. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

Eine tolle Show, im Schneidersitz in Sekundenschnelle

Im Großen Saal hinter der Glasfassade gab Heller ebenso kurz wie amüsant den spirituellen Reiseleiter-Conferencier für zwei Arten, sich über stundenlange Sufi-Rituale singend und tanzend seinem Gott zu nähern. Die marokkanische Gnawa-Tradition setzt dabei auf Call-and-Response-Muster: Mit ihrem Gesang und den pulsierenden Riffs ihrer elektrisch verstärkten Basslaute Gimbri war Hind Ennaira der treibende Motor für den Chor hinter ihr. Scheppernde Blechkastagnetten als Ekstase-Treibstoff und dazu Solo-Einlagen mit waghalsigen akrobatischen Sprüngen gaben erste Einblicke in eine fremde Kultur und ihre Euphorie. Die pakistanische Methode: Sufi-Meister wie Fareed Ayaz und sein Bruder Abu Mohammad mit kleinen Harmoniums vor sich, umgeben von acht selig mitsingenden und mit klatschenden Zuarbeitern.

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Westliche Rockstars müssen erst über Riesenbühnen tigern wie gedopt, um eine tolle Show abzuliefern. Diese Qawwali-All-Stars schafften es im Schneidersitz in Sekundenschnelle. Und weil ein so direkter Draht zum Himmel 2024 auch nicht mehr alles ist, wurden am Ende fleißig Handyvideos auf der Bühne gedreht.

Weitere Infos zum Reflektor-Festival: www.elbphilharmonie.de