Hamburg. Begeisterter Applaus für eine komplexe Premiere am Ernst Deutsch Theater, bei der es auch um Kritik an den sozialen Medien geht.

Die Drehbühne des Ernst Deutsch Theaters ist stark gefordert. Immer wieder rotieren die Bühnenbilder und verschränken sich kunstvoll neu ineinander. Zunächst blickt man in die moderne Klinik des Elisabeth-Instituts, in dem über Alzheimer geforscht wird (Bühne: Stephanie Kniesbeck). Doch die Nacht trägt der von Gesine Cukrowski verkörperten Ärztin und Klinik-Gründerin Ruth Wolff eine Patientin zu, 14 Jahre alt, einen misslungenen Abtreibungsversuch hinter sich, jetzt im Delirium mit einer Sepsis – und katholisch.

„Die Ärztin“: Es ist nicht leicht, den Überblick zu behalten

Das ist für die Ärztin, Tochter jüdischer Eltern, die sich als nicht religiös betrachtet, kein Thema. Sie handelt gemäß ihrem Berufsethos und verweigert dem von Gerd Lukas Storzer gespielten Pfarrer den Besuch, um dem Mädchen die Aufregung zu ersparen und ein „glückliches Sterben“ zu ermöglichen.

So weit steht das auch so bei Arthur Schnitzler in seinem Stück „Professor Bernhardi“. Für die Inszenierung im Ernst Deutsch Theater hat Regisseur Hartmut Uhlemann nun eine Überschreibung des Stoffes des gefeierten britischen Autors Robert Icke ausgewählt. Sie trägt den Titel „Die Ärztin“ und ist eine „sehr freie“ Verhandlung und zugleich Zuspitzung des Schnitzler-Stoffes auf Fragen von Geschlecht, Identität und Klasse – auch eine Kritik an den sozialen Medien.

Der Autor will ausdrücklich, dass Figuren mit und gegen ihre eigentliche Identität besetzt werden. Das führt dazu, dass Isabella Vértes-Schütter den stellvertretenden Leiter der Klinik, Roger Hardiman, spielt. Und der von einem weißen Schauspieler verkörperte Pater Jacob als schwarz identifiziert wird.

Gesine Cukrowski spielt die Hauptrolle einfach überragend

Als Publikum ist es da nicht immer ganz einfach, den Überblick zu behalten. Man ist ohnehin gefordert, den Hauptkonflikt nicht aus dem Blick zu verlieren. Den Sichtweisen von Ärztin einerseits und Pfarrer andererseits und den Folgen für die Klinik, deren Personal sich in einer Sitzung bald über dem Vorfall entzweit. Die einen signalisieren Unterstützung, die anderen fürchten um die Sponsorengelder für einen neuen Klinikbau. Neider, die am Stuhl der Ärztin sägen, gibt es natürlich auch.

Eine absolut überragende Gesine Cukrowski spielt die Rolle der selbstbewussten Medizinerin, die mit Ironie (Pfarrer: „Wird sie sterben? Ruth: „Wie wir alle“) versucht, professionell und sachlich zu bleiben und deren Selbstgewissheit dennoch erschüttert wird. Lange ist sie ein Fels in der Brandung der bald hochkochenden Emotionen in einem durchweg auf hohem Niveau agierenden Ensemble. Doch auf einmal wird die Öffentlichkeit, „die Stimme des Volkes“, zum Problem. Aber Ruth Wolff bleibt konseqeunt und lehnt eine Entschuldigung für den verweigerten Zutritt des Pfarrers ab.

Bisweilen ist der Abend mit zu vielen thematischen Ebenen überfrachtet

Allerdings verrennt sich Ickes Überschreibung bald in all den behaupteten und tatsächlichen Identitäten, in Wokeness und Woke-Kritik, überfrachtet den Abend mit zu vielen Ebenen. Auch lenken Nebenhandlungen ab. Anders als bei Schnitzler, wo es ausschließlich um das berufliche Umfeld, geprägt von Karrieredenken, Ressentiments und die unterschwelligen Mechanismen des Antisemitismus geht, hat die „Ärztin“ ein reales Leben mit einer komplizierten gleichgeschlechtlichen Beziehung, die tragisch enden wird, und pflegt eine Freundschaft zum non-binären Nachbarskind Sami.

Doch nach der Pause gelingt Icke und auch Uhlemann ein genialer Kunstgriff. Die inzwischen beurlaubte Ärztin wird in eine Talkshow mit dem herausfordernden Titel „Im Ring“ eingeladen. Und da sitzen sie, glamourös gestylt (Kostüme: Bernhard Westermann) frontal zum Publikum aufgereiht und von Peter Albers munter anmoderiert: Gender- und Postkolonialismus-Aktivisten und eine Abtreibungsgegnerin.

Es geht auch um Postkolonialismus und Identitätspolitik

Und tatsächlich wird der Konflikt samt dem dahinterstehenden komplexen Diskus sehr nachvollziehbar auf hohem Niveau von allen Seiten verargumentiert. Alle machen ihre Sache großartig, vor allem Jan Tsien Beller als Pastor und Aktivist einer freireligiösen christlichen Vereinigung und Yann Mbiene als Aktivist mit dem Schwerpunkt post-koloniale Theorie: Die Ärztin wird mit ihren Privilegien als weiße, gebildete Frau konfrontiert.

Die bemüht sich glaubhaft um Präzision, kann noch so oft wiederholen, dass sie sich nicht als Teil einer Gruppe betrachtet. „Sie können Ihre Gruppen ignorieren – als weiße Frau eines gewissen Alters, als Angehörige einer gewissen Klasse – weil Sie Teil der Elite sind“, hält Tash Manzungu als Leiterin einer nationalen Aktionsgruppe zur Bekämpfung unbewusster Vorurteile dagegen. Schubladendenken hat für Icke zuerst mit Zuschreibungen von außen zu tun. Identitätspolitik wird da zur unvermeidlichen Wendung gegen Ungerechtigkeit.

Viele kluge Sätze finden sich in dem sehr dicht geschriebenen Text

Überhaupt stehen viele kluge Sätze in dem sehr dicht geschriebenen Text. Zum Beispiel dieser hier: „Die einzige akzeptable Redaktion wäre wohl zu sterben. So funktioniert eine öffentliche Hinrichtung im digitalen Zeitalter“, sagt Cukrowskis Ärztin, als sie am Shitstorm-Pranger in den sozialen Medien unfreiwillig „trendet“ und ihr Menschen auf einmal ganz real nach dem Leben trachten.

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Regisseur Hartmut Uhlemann und sein Team haben hier eine Glanzleistung vollbracht, die Herausforderung der – zu vielen – Textebenen angenommen und daraus am Ende doch einen äußerst sehenswerten, klugen, zeitgemäßen und dynamischen Theaterabend kreiert. Dafür gibt es sehr verdient standing ovations.

„Die Ärztin“Vorstellungen bis 19.4., Ernst Deutsch Theater, Friedrich-Schütter-Platz 1, Karten unter T. 22 70 14 20; www.ernst-deutsch-theater.de