Hamburg. Neue Alben von gleich zwei Top-Künstlerinnen? Das Universum meint es gut mit uns. „Bright Future“ und „Tigers Blood“ sind überirdisch.

Adrianne Lenker ist dann mal in den Wald. Ins Aufnahmestudio, nichts Urbanes in der Nähe. Folk-Interpreten machen so etwas ja bisweilen. Justin Vernon (Bon Iver) ist für sein Debüt „For Emma, Forever Ago“ einst ganz allein in eine Hütte in den Wäldern gezogen. Er brauchte vermutlich nur Akustikgitarre und Stift. Lenker, 32 Jahre alt und längst in der allerersten Riege der Songwriterinnen angekommen, hatte drei Kolleginnen und Kollegen dabei, als sie zwischen Bäumen verschwand. Sie kennt das ja von ihrer Band Big Thief, den absoluten Lieblingen des Indierock, das Gemeinsam-Musikmachen. Eine Einzelgängerin ist Lenker nicht.

Adrianne Lenker (links) bei einem Auftritt mit ihrer Band Big Thief.
Adrianne Lenker (links) bei einem Auftritt mit ihrer Band Big Thief. © picture alliance / Photoshot

Für ihr neues, ganz vorzügliches Album „Bright Future“ gewann sie Nick Hakim, Mat Davidson und Josefin Runsteen. Hakim, der Pianist, ist auf dem Dutzend introspektiver, persönlicher und erzählender Stücke der wichtigste Sidekick. Die Arrangements bauen auf dem Sound des Klaviers, am fantastischsten bei „Ruined“, der traurigen Ballade darüber, dass zu allen Zeiten die Liebe die Menschen fertiggemacht hat. Wobei dann eben auch eine ganz eigene Schönheit darin liegt, sich von der Liebe demolieren zu lassen. Eine Zeile wie „You come around, I‘m ruined“ singt niemand so schläfrig und barmend wie Lenker.

Adrianne Lenker und ihr neues Album „Bright Future“: Im Mai tritt sie auf Kampnagel auf

Aber Liebe kann auch fröhlich sein wie im Big-Thief-Lied „Vampire Empire“, das Lenker für „Bright Future“ neu aufgenommen hat. Sie ist die Reimerin unter den ambitionierten Lyrikerinnen: „You give me chills, I‘ve had it with the drills/I‘m nothing, you are nothing, we are nothing with the pills/I‘m empty ‘til she fills, alive until she kills/In her vampire empire, I am/Falling, yeah/Falling, yeah“. Selbstredend aber ist das Leiden am Lieben die bessere Geschichte. „Sadness Is A Gift“, wie Lenker – freilich sarkastisch –zu ihrem Partner sagt, es könnte auch eine Partnerin sein, im gleichnamigen Song. Die große Minnesängerin Adrianne Lenker kommt mit ihren stillen, lauten Songs am 7. Mai nach Hamburg und tritt auf Kampnagel auf.

Mehr zum Thema

Und dann ist da noch die ebenso grandiose Songwriterin Katie Crutchfield, die mit ihrem Projekt Waxahatchee das nächste Super-Album nach „Saint Cloud“ veröffentlicht. Damals, 2020, erlebte die 1989 geborene Crutchfield ganz entschieden das, was man den „Durchbruch“ nennt. Die Indierockphase, die vorher mit dem Album „Out In the Storm“ ihren Höhepunkt hatte, wurde vom neuen Waxahatchee-Sound abgelöst, Folk und Country, besonders Letzteres ziemlich unvermutet. Textlich ging es Crutchfield unter anderem um das Loskommen vom Alkohol. „Fire“ war die perfekte Melancholienummer, ein langsames Stück zum langsamen Verglühen. Vor knapp einem Jahr war Crutchfield in der Elbphilharmonie zu Gast.

Das neue Waxahatchee-Album „Tigers Blood“: Noch filigraner und kraftvoller

Nun das neue Album „Tigers Blood“, das, Potztausend, tatsächlich noch filigraner und zugleich kraftvoller ist als der Vorgänger. „Right Back To It“, die erste Auskopplung (sagt man das heute eigentlich noch?), war als Vorbote optimal. Ein mit Wednesday-Gitarrist MJ Lenderman performter Song über die Unsicherheit von Beziehungen, deren Stabilität man ersehnt und gleichzeitig fürchtet.

„365“ dagegen handelt vom Nicht-voneinander-Loskommen. Hartes, schwermütiges Zug also? Nicht bei Waxahatchee. Die neuen Songs haben eine lässige Alternative-Country-Verspieltheit, bei der man summend und pfeifend den Truck in der Garagenauffahrt waschen möchte. Hätte man denn einen Truck und eine Garagenauffahrt.

podcast-image

Die Melodien auf „Tigers Blood“ und Katie Crutchfields Vortrag sind lieblicher denn je. Die Künstlerin, die in Kansas City im US-Bundesstaat Missouri lebt (mit Lebenspartner Kevin Morby), weiß selbst, dass sie derzeit in einem besonders ertragreichen Kapitel ihrer Karriere steckt, wahrscheinlich den frühen Höhepunkt des Schaffens erklommen hat. In einem Interview hat sie übrigens erzählt, dass sie ein großer Fan Taylor Swifts ist.

Deren Album „The Tortured Poets Department“ erscheint bald: Das neue Werk des größten Popstars des Planeten, der ursprünglich aus der Countryszene kommt. Und Beyoncé macht ja jetzt auch Country, mal sehen, wie „Act II“ dann insgesamt klingt, wir werden es kommende Woche sehen. Ob Waxahatchee ihr so wärmendes, ihr wie angegossen passendes Americana-Kostüm bald wieder ausziehen wird, um womöglich mit Pop noch größer zu werden?

Das Cover von Waxahatchees neuem Album „Tigers Blood“.
Das Cover von Waxahatchees neuem Album „Tigers Blood“. © Waxahatchees | Waxahatchees

Es wäre ihr zuzutrauen. Und es wäre dennoch beinah schade. Weil die aktuellen Waxahatchee-Songs, Preziosen wie „Ice Cold“, „Crowbar“ und „Tigers Blood“, so überzeugend und unvergesslich sind. „Tigers Blood“ wird das ganze Jahr über laufen. Und am 13. Juli kommt Katie Crutchfield aka Waxahatchee in den Mojo Club. Dafür würde man glatt das EM-Finale sausen lassen; das aber eh erst einen Tag später stattfindet.