Berlin. In vielen neuen Singer-Songwriter-Platten haben Lockdown und Social Distancing noch keine Spuren hinterlassen: Die Deutsche Presse-Agentur stellt einige hörenswerte Alben vor.
Von spartanischen Lockdown-Platten aus dem stillen Kämmerlein keine Spur: Die neuen Alben von Matt Costa, Jeremy Ivey, Luka Kuplowsly, Kevin Morby und Grant-Lee Phillips sind voll ausgereifte Singer-Songwriter-Statements. Ein alphabetischer Überblick zu einigen der besten Neuerscheinungen im Herbst.
MATT COSTA - "Yellow Coat" (Dangerbird/Bertus)
Auf dem schmalen Grat zwischen Frohsinn im Fifties-Groove ("Slow", "Savannah") und seufzender Melancholie ("Let Love Heal", "Yellow Coat") balanciert dieser Musiker auf seinem neuen Album. Und ehe man nun denkt, völlig überraschend eine interessante Neuentdeckung gemacht zu haben - von wegen, der Mann gehört bereits 15 Jahre lang zur US-Folkpop-Szene (seit dem Debüt "Songs We Sing"). Auch wenn die Handvoll Vorgänger-Platten schon ihre Qualitäten hatte, dürfte "Yellow Cat" nun Matt Costas reifstes und bestes Werk sein - und zugleich eines der charmantesten Songwriter-Alben des Herbstes.
1982 im kalifornischen Huntington Beach geboren, wurde er in einem musikbegeisterten Haushalt inklusive umfangreicher Plattensammlung von Folk-Helden wie Richard Thompson, Nick Drake und Bob Dylan geprägt. Wohlklang in Beatles-Nähe war sein Ziel schon in älteren Liedern.
Herzschmerz nach dem Ende einer langen Beziehung war nun wohl Ausgangspunkt der "Yellow Coat"-Songs. Wenn in "Sky Full Of Tears" ein kleines Streichorchester einsetzt und die so traurige wie herzerwärmende Melodie krönt, fühlt man sich dem verwundeten Matt Costa als Hörer sehr nah. Und nach dem wunderbaren, an Ben Folds erinnernden Pianopop-Closer "So I Say Goodbye" drückt man fast zwangsläufig die Repeat-Taste für diese Klasse-Platte.
JEREMY IVEY - "Waiting Out The Storm" (Anti-/Indigo)
Die beiden sind eine starke Kombination: Der Americana-Songwriter Jeremy Ivey aus Nashville und seine Ehefrau Margo Price, seit Jahren im selben Genre erfolgreich. Jetzt hat Price auch das zweite Album ihres Liebsten produziert - und es ist noch besser geworden als das empfehlenswerte Debüt "The Dream And The Dreamer" (2019).
Countryrock hört man nur noch selten, dafür mehr knackige Gitarren und Mundharmonika wie bei Neil Young sowie Harmony-Vocals, die an dessen raubeinige Truppe Crazy Horse erinnern ("Movies"). Stimmlich klingen Steve Wynn (The Dream Syndicate) und Beck bei Jeremy Ivey an.
Auch rustikaler Soul und Blues finden auf "Waiting Out The Storm" verstärkt ihren Platz. Das Album hört sich insgesamt sehr mitreißend und zuversichtlich an - dabei sieht sich Ivey (41), der eine Zeitlang in Boston als Obdachloser lebte, eigentlich eher als pessimistischen Typen: "Ich schreibe nicht gerade viele positive Lieder, aber ich versuche auf jede Platte einen draufzupacken." Dieser Song heißt nun "Things Can Get Much Worse" - und ist ein höchst wirksamer Muntermacher. Warten wir also auf ein Duett-Album von Ivey/Price.
LUKA KUPLOWSKY - "Stardust" (Mama Bird/Membran)
In der immer wieder überraschenden Singer-Songwriter-Szene Kanadas ist er eine der Entdeckungen des Jahres: Luka Kuplowsky aus Toronto, ein junger Gitarrist und Sänger mit hörbar riesigem Talent. Man denkt an seinen Landsmann Leonard Cohen in jüngeren Jahren, an Lou Reed, an legendäre Briten wie Nick Drake oder John Martyn, an aktuelle Koryphäen wie Cass McCombs und Thomas Dybdahl, wenn man "Stardust" hört. Vor allem aber an die wichtigste weibliche Stimme aus Kuplowskys Heimat, Joni Mitchell - etwa in "Never Get Tired Of Loving You" und dem Titelstück.
Große Namen, die schon andeuten, dass dieser Musiker einen höchst individuellen, weit vom Folkpop-Mainstream entfernten Sound zu bieten hat, der sich im genau richtigen Maß Anleihen bei den Vorbilder gestattet. Wie Kuplowsky in seinen luftigen Kompositionen (inklusive Sax, Trompete und Flöte) Folk und Jazz verknüpft, ohne dass es verkopft klingt, das zeugt von einem früh gereiften Künstler.
Dabei nutzt er sogar zu seinem Vorteil, dass er nicht die kräftigste Stimme hat, sondern eher leise, weiche Vocals bis hin zum Sprechgesang bevorzugt: Die "Stardust"-Songs gewinnen durch diesen zurückhaltenden Vortrag eher noch an Intensität. Ein akustisches Labsal.
KEVIN MORBY - "Sundowner" (Dead Oceans/Cargo)
Wenn einem Sänger nachgesagt wird, wie die Schnittmenge aus Bob Dylan, Lou Reed, Leonard Cohen und John Lennon zu klingen, dann lohnt schon mal das Hinhören. Zudem ist Kevin Morby ein grandioser Songwriter, der mit "Singing Saw" 2016 eine der Platten des Jahres ablieferte und damit seinen Durchbruch feierte.
Auch wenn danach "City Music" (2017) und "Oh My God" (2019) dieses Niveau nicht ganz halten konnten, gilt der 32-jährige US-Amerikaner weiterhin als großes Versprechen für die Folkrock-Zukunft. Diesem Ruf wird auch Morbys sechstes Soloalbum seit 2013 gerecht, das coole "Sundowner".
Wie dieser Musiker hier mit Bezügen zur Rock-Historie und vielen Ideen nur so um sich wirft, wirkt schon fast verschwenderisch. Allein die Cohen-Melancholie des Titelstücks ist zum Niederknien. Auch seine noch junge Liebe zur Kollegin Katie Crutchfield (Waxahatchee) hat Morby zu einer Reihe feiner Songs inspiriert. Bis auf Bass, Drums und Keyboards spielte er in den Recording-Sessions viele Instrumente selbst.
Zwar geht dem Album gegen Ende etwas die Puste aus, so dass Morbys ganz großes Meisterwerk weiterhin aussteht. Dennoch begeistert der kontinuierlich hochwertige Output dieses Indierock-Supertalents.
GRANT-LEE PHILLIPS - "Lightning, Show Us Your Stuff" (Yep Roc)
Ein wirklich schlechtes Album hat dieser Singer-Songwriter, den viele auch als TV-Kleinstadtbarden der "Gilmore Girls" kennen, in seiner 30-jährigen Karriere noch nicht gemacht. Weder als Frontmann des tollen Folkrock-Trios Grant Lee Buffalo in den 90ern noch mit seinen Soloplatten.
Das einzige Problem: Seine warmen, mit famoser Stimme gesungenen Lieder sind wohl etwas zu unspektakulär, um ihm den Eintritt in die Champions League eines Bruce Springsteen oder Tom Petty zu gestatten. Das wird sich auch mit der ruhigen und wieder sehr schönen neuen Platte wohl nicht ändern.
Der 57-jährige Kalifornier Phillips konzentriert sich in aufgeräumten Arrangements auf akustische Gitarren und seinen markanten Gesang, der so viel Gefühl und Menschenfreundlichkeit auszudrücken vermag. "Leave A Light On" ist so ein Beispiel: Eine feierliche Melodie wird mit dezenten Bläsern und Steel-Gitarre im Hintergrund zu einer kitsch- und bombastfreien Hymne.
Überhaupt fließen hier Folk-, Soul- und Countrypop-Elemente erneut perfekt zusammen - am eindrücklichsten in der Ballade "Sometimes You Wake Up In Charleston". Wenn es in diesem Jahr nach dem brutalen US-Wahlkampf ein versöhnliches, beruhigendes Album gibt, dann wohl "Lightning, Show Us Your Stuff".
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