Hamburg. Ein Gespräch mit dem Tenor Ian Bostridge über Nerds und Temperament, schöne und hässliche Stimmen und über Lampenfieber.

Er ist Tenor, Autor, promovierter Historiker und Brite. Ian Bostridge hat viele Talente und eine besonders große Leidenschaft: das Lied. Sein Buch über Schuberts „Winterreise“ ist ein hochspannendes Standardwerk. Jetzt kommt er nach Hamburg, um in der Elbphilharmonie die Titelpartie in Monteverdis „L’Orfeo“ zu singen. Ein Gespräch über Nerds und Temperament, schöne und hässliche Stimmen.

Hamburger Abendblatt: Wie ist es gerade, als Künstler in einem Brexit-Großbritannien zu leben, das von Boris Johnson regiert wird?

Ian Bostridge: Irgendwie peinlich und demütigend, erst recht, weil dieser Brexit von jemandem ausgelöst wurde, der an so gar nichts glaubt. Jemand sagte neulich, das sei wie ein Handelskrieg, den wir gegen uns selbst führen. Wir waren beide auf der gleichen Universität und Johnson war einer dieser Typen, die man lieber nicht in der Nähe von etwas Sinnvollem haben wollte. Schon damals war er ein zwielichtiger Charakter, das ist er auch heute – und er kommt immer noch damit durch.

Wie würden Sie Ihre Stimme beschreiben? Gibt es etwas, das Sie wirklich sehr mögen, etwas Einmaliges?

Bostridge: Gerade heute hatte ich Gesangsunterricht, ich habe also viel über sie nachgedacht. Ich glaube, sie ist klar. Vor allem ist sie ausdrucksvoll. Das zeigt sich auch auf meiner neuen Barock-CD „Tormento d‘amore“: Als Tenor zu singen muss nicht bedeuten, dass man laut und hohe Noten singt. Die Beziehung zum Klang der Worte ist sehr wichtig, und das ist etwas, was meine Stimme bewerkstelligen kann.

Sie und Ihr Bruder sollen fürchterlich kurzsichtig, schlecht im Sport und lesewütig gewesen sein. Dann wurden Sie zum Singen in einen Kirchenchor geschickt. Wie entdeckten Sie, dass in Ihnen ein klassischer Tenor steckt und nicht der nächste David Bowie?

Bostridge: Ich glaube, ich wollte tatsächlich nie ein Sänger werden, bis es mir passiert ist. Gesungen habe ich immer, aber mit Popmusik hatte ich nie viel am Hut, ich war nerdy: dicke Brillengläser, viele Bücher und ich mochte klassische Musik. Sänger zu sein war kein Traum für mich. Meine große Inspiration als Teenager war Dietrich Fischer-Dieskau, schon deswegen hatte ich mich nie für einen Sänger gehalten, weil ich kein Bariton bin. Zum Sänger zu werden, passierte schrittweise.

Jetzt bin ich tief im Klischee, aber: Sich fundierte, komplexe Gedanken über Musik zu machen und Tenor zu sein – das passiert vielleicht nicht ständig, vorsichtig ausgedrückt? Über Sie schrieb jemand: „Tenöre mit viel Hirn sind selten in der klassischen Musik.“ Sind Sie also die Ausnahme zu diesem Vorurteil?

Bostridge: Die allermeisten Sängerinnen und Sänger halte ich bei dem, was sie tun, für wirklich unglaublich intelligent, auch wenn sie vielleicht nicht immer allzu intellektuell vorgehen. Ich habe einen Doktor, aber das hilft mir bei Aufritten nicht. Hätte ich eine weniger angstgetriebene Einstellung zum Auftreten, hätte ich vielleicht auch Donizetti oder Rossini singen können. Aber das finde ich nicht besonders interessant und es würde auch nicht meinem Temperament entsprechen.

Haben Sie schon darüber nachgedacht, was passiert, wenn Ihre Stimme altert und vielleicht tiefer wird, so dass sie wie Plácido Domingo bei Bariton-Partien enden? Oder: egal?

Bostridge: Das stört mich eigentlich nicht. Gerade erst war ich bei einem Essen, machte neue Bekanntschaften, und die fragten gleich, extrem unfreundlich: Wie lange wollen Sie eigentlich noch singen? Und in der Gesangsstunde vorhin erzählte mein Lehrer von neuen Studien, dass sich Teile des Stimmapparats erst mit 70 verhärten, doch bis das beginnt, könne man sich als Sänger immer weiterentwickeln, sogar danach noch. Man muss das richtige Repertoire auswählen, Lieder kann ich in jeder Tonart singen, die mir gefällt und liegt. Solange man etwas leistet, das künstlerisch interessant ist, geht das in Ordnung. Außerdem habe ich mich an den Umstand gewöhnt, dass Menschen mit sehr hässlichen Stimmen großartige Konzerte geben. Einer der größten Pop-Sänger überhaupt, Bob Dylan, hat eine grässliche Stimme. Es kommt eben immer darauf an, wie man mit Geschmack umgeht. Momentan, auch wegen Covid, haben wir alle weniger gesungen. Und das hat seine guten Seiten.

Ihre Repertoire-Bandbreite ist enorm, von frühbarockem Monteverdi bis zu Zeitgenössischem. Wie schnell finden Sie heraus, mit welcher Musik Sie nicht mehr warm werden?

Bostridge: Als Interpret habe ich ein sehr romantisches Temperament, aber ich singe nur wenig romantisches Repertoire mit Orchester. Dieses opernhaft Romantische liegt mir nicht. Ansonsten gibt es eine Verbindung zwischen Barockem und Liedern: Da geht es oft um den Gegensatz von Melodielinien und dem Text, von Drama und Intimität.

Sie haben es also auch nie vermisst, ein Wagner-Tenor zu sein, Drachen zu erlegen und stundenlang herumzubrüllen?

Bostridge: Loge im “Rheingold” würde ich gern mal singen, sage ich immer, aber das wird wohl leider nie passieren.

Wo ist Ihr Lampenfieber größer: Oper, Liederabend oder Konzert?

Bostridge: Auf Dauer kann in diesem Job wohl niemand mit Lampenfieber überleben. Ich mache mir eher über bestimmte Phrasen besonders viele Gedanken. Und gerade in der Oper gibt es erst recht kein Lampenfieber, weil so viel Routine ins Spiel kommt, man hat so lange geprobt, bis der Vorhang hochgeht und man in diesem isolierten Raum ist.

Ein Gespräch mit Ihnen, ohne nicht auch über Ihr Buch über Schuberts „Winterreise“ zu reden, ist nicht denkbar. Wie hart war es, das zu schreiben? Haben Sie sich dafür frei genommen, schrieben Sie zwischen zwei Auftritten?

Bostridge: Mein Buch über Hexerei habe ich beendet, als ich schon Sänger war; damals dachte ich mir, ach, beides zusammen ist doch ganz einfach. Als ich später die Möglichkeit bekam, ein weiteres Buch zu schreiben, sprach ich mit meiner Frau, die auch Autorin ist, darüber, und wir hielten die „Winterreise“ beide für ein sehr gutes Thema. Ich hatte viel darüber gelesen, die 24 Lieder gaben die Struktur vor. Und ich konnte es portionsweise schreiben. Den ersten Satz schrieb ich, als ich mit Leif Ove Andsnes bei einem Festival auftrat. Extra frei genommen habe ich dafür jedenfalls nicht.

In einen Satz hineinkomprimiert: Was ist das zeitlos Interessante, Faszinierende an diesem Liederzyklus von Schubert?

Bostridge: Es sind wohl die Lücken zwischen den Noten, die Musik ist so schlicht, dass sie uns viel Raum zum Nachdenken bietet. Er ist ein Mysterium.

Sie kommen mit Monteverdis „L’Orfeo“, einer der frühsten, wichtigsten Opern überhaupt. Wieso fühlt sich diese Musik vom Beginn des 17. Jahrhunderts so frisch und unmittelbar aktuell an?

Bostridge: Diese Epoche ist uns sehr nah. Das Stück ist zeitlich nicht weit von „Hamlet“ entfernt und erzählt eine sehr einfache, sehr ikonische Geschichte. In so vielen Opern aus dem 18. Jahrhundert geht es um zentralasiatische Könige, sehr formelhaft. Im Orpheus-Mythos geht es darum, etwas zu verlieren, was man liebt. Und was die Musik angeht: Sie ist so abwechslungsreich.

2016 haben Sie hier mit Kent Nagano in den Deichtorhallen bei Romeo Castelluccis „La Passione“-Spektakel mitgewirkt, in seiner Interpretation von Bachs Matthäus-Passion mit etlichen Requisiten. Ein riesiger Baum oder gleich ein ganzer Touristenbus wurden damals quer über die Bühne geschoben. Wie war es für Sie, dagegen ansingen zu sollen?

Bostridge: Etwas problematisch. Als Teil des Publikums hätte es mir wahrscheinlich ganz gut gefallen. Als ich den Evangelisten sang, war ich sehr dramatisch. In dieser Rolle muss ich ja eine Verbindung zum Publikum aufbauen. Und in dieser Produktion hätten sie genauso gut einfach eine CD laufen lassen können. Es war mehr eine Kunst-Installation, sehr trockene Akustik, und wir waren immer nur hinter diesen Dingen.

Kann es passieren, dass Sie bei Ihren Auftritten wirklich gerührt sind von dem, was in diesem Moment passiert? Oder sind sie Profi und distanziert genug, sich davon nicht kriegen zu lassen?

Bostridge: Bei den Aufführungen, die wirklich funktionieren, fühlt man sich wie ein Instrument des Ausdrucks. Das intellektualisiert es aber schon zu sehr. Es ist so, wie es immer gern gesagt wird: Der Sänger wird zum Lied, ein leicht schamanisches Erlebnis. Es fließt, es wirkt alles ganz natürlich… Wenn ich wählen müsste, zwischen der perfekte singenden Joan Sutherland und Maria Callas, die manchmal sehr schlecht sang, würde ich mich immer für Callas entscheiden, weil sie ganz und gar in dem ist, was sie tut. Das wäre für mich immer eine Idealvorstellung.

Sie erwähnten Ihren Gesangsunterricht, mit 57 Jahren. Ist es normal für Sie, jetzt noch Schüler zu sein, noch lernen zu sollen, nach einer jahrzehntelangen Karriere? Oder ist das eher wie die Inspektion in der Werkstatt, wo man regelmäßig den Reifendruck checken lässt?

Bostridge: In etwa, aber auch viel mehr. Der Körper verändert sich, die Stimme verändert sich. Einiges wird einfacher, anderes schwerer. Unterricht ist einfach sehr wichtig.

Vermissten Sie Ihr Publikum während der Corona-Jahre, in denen praktisch nichts ging? Oder waren Sie ganz froh, die Batterien einmal aufladen zu können?

Bostridge: Nein, ich fühlte mich schrecklich. Ich hatte ein Buch zu schreiben, ich unterrichtete in München, online. Und dann hatte ich eine „Winterreise“ im Opernhaus in Gent, volles Haus, keine Masken. Es war wie Manna vom Himmel.

Hatten diese Pandemie-Jahre auf längere Sicht auch Gutes, vielleicht die Möglichkeit, sich neu zu erfinden?

Bostridge: Das alles war eine einzige Katastrophe. „In der Kunst geht es um Zugänge, und mit Streaming erreichen wir so viel mehr Menschen“? Eine komplette Fehleinschätzung des Wesens von performing arts. Verbindung zu Menschen baut man nicht mit Streaming auf.

Wie schwer ist es für Sie, einen Klavierbegleiter zu finden? Und wie schwer ist es, danach zusammenzubleiben?

Bostridge: Mit Julius Drake arbeite ich schon seit 30 Jahren zusammen…

… eine amtliche Ehe-Zeit…

Bostridge: … genau, mit allen Herausforderungen… Saskia Giorgini hat mich zur Musik von Respighi gebracht. In letzter Zeit habe ich viel mit Lars Vogt gearbeitet, als Pianist und Dirigent. Wie schön, dass ich immer wieder inspirierenden Menschen begegne.

Wie bereiten Sie einen Liederabend vor, wie stellen Sie und ihr Gegenüber fest, wer an bestimmten Stellen recht hat und wer nicht?

Bostridge: Wenn man mit jemandem arbeitet, der erfahren ist, gute Ohren und ein Gefühl für das Repertoire hat, passiert das organisch, Diskussionen sind dann sehr selten. Es ist ein unsichtbares Verhandeln, während man arbeitet. Hin und wieder geht es mal ums Tempo, und dann hat man als Sänger immer die wunderbare Ausrede, dass man nicht atmen kann. Mit diesem Trumpf kann man immer bekommen, was man möchte.

Der Bariton Christian Gerhaher hat alle knapp 300 Schumann-Lieder aufgenommen. Reizt es Sie, alle 600 Schubert-Lieder einzuspielen – oder wäre Ihnen das dann doch zu obsessiv?

Bostridge: Ein gewisses Interesse hätte ich schon. Aber ich mag es sehr, Stücke aufzunehmen, die ich in Konzerten gesungen habe. Einen enzyklopädischen Drang verspüre ich eher nicht.

Die vielleicht dümmste Frage dieses Gesprächs: Im Mai kommen sie zurück in die Elbphilharmonie, für eine „Winterreise“ mit Sir Antonio Pappano. Sollte die nicht lieber nur im Winter gesungen werden?

Bostridge: Nein. Eine der heißesten Aufführungen hatte ich beim Cartagena Festival in Kolumbien. Es war im Januar und so was von wahnsinnig heiß, um die 35 Grad. Aber wir mussten darum bitten, dass die Klimaanlage abgestellt wird, weil sie dermaßen laut war. Und direkt danach ging es nach Montreal, für eine „Winterreise“ mit Angela Hewitt, bei -30 Grad. Das Stück funktioniert in allen Lebenslagen. Es geht dabei um eine Geisteshaltung, nicht um das Wetter.

Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, sich mit Dirigieren oder Regie zu beschäftigen, nach dem Motto: Was die können, kann ich inzwischen auch?

Bostridge: Es gibt inzwischen eine lange Liste mit Sängern, die zu schlechten Dirigenten wurden. Einem Agenten, der unter anderem Sir Simon Rattle entdeckt hatte, musste ich versprechen, dass ich die Finger davon lasse. Fischer-Dieskau war ein großartiger Musiker, ein großartiger Sänger – aber offenbar eindeutig kein erfolgreicher Dirigent. Und mir ist inzwischen auch klar, wie schwierig Regie ist.

Welche Stimme hätten Sie im nächsten Leben gern, wenn es denn kein Tenor sein soll?

Bostridge: Kein Kastrat… Ich wollte immer ein Bariton sein und habe als Teenager zu Fischer-Dieskau-Platten mitgesungen. Als wohl am ehesten Bariton. Obwohl das ein hartes Leben ist, sehr kompetitiv.

Ich hätte auf Bass getippt – endlich mal der bad guy sein können.

Bostridge: Stimmt. Beim Bass Robert Lloyd hörte es sich so an, als ob das total einfach wäre. Man hat fast nie hoch zu singen, kann rauchen und trinken. Ein perfektes Leben.

Aufnahmen: „Tormento d’amore” Cappella Neapolitana, Antonio Florio. Tenor-Arien von Vivaldi, Vinci, Cesti u.a. (Warner Classics, CD ca. 18 Euro). „Respighi Songs“ mit Saskia Giorgini (Klavier) (Pentatone, CD ca. 13 Euro) Buch: „Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz” (C.H. Beck, 405 S., 18 Euro). Konzerte: 16.2. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Monteverdi „L’Orfeo“ mit Europa Galante, Fabio Biondi (Dirigent). 15.5. Kleiner Saal. Schubert „Winterreise“ mit Sir Antonio Pappano (Klavier). www.elbphilharmonie.de