Hamburg. Kent Nagano und die Philharmoniker kombinierten in der Elbphilharmonie Werke von Schostakowitsch, Aleksiychuk und Beethoven
„Kürzlich, keiner wagt es zu verbieten, hat eine Schar Antisemiten / sich höhnisch ,Bund des Russenvolks‘ genannt“, lautet eine der vielen erschütternden Textzeilen im ersten Werk, Schostakowitschs abgrundfinsterer 13. Sinfonie, die mit wütender Trauer an das Weltkriegsmassaker der SS 1941 in Babyn Jar bei Kyiv erinnerte und sich 1962 todesmutig mit der Sowjet-Allmacht anlegte. Das letzte endet mit der durch Beethoven hymnisch herausjubilierten Hoffnung „Wenn sich Lieb‘ und Kraft verbinden, lohnt dem Menschen Göttergunst“. Und dazwischen erklingt, aus dem Dunkel, unsichtbar und umso eindringlicher hinter der Bühne der Elbphilharmonie, ein fast archaischer, kleiner Frauenchor. Ein Chorsatz der Ukrainerin Iryna Aleksiychuk, das unter dem frischen Eindruck der von Putin befohlenen Invasion wirklich jeden, der dennoch im Himmel Dienst haben könnte, leise anfleht: „Hab Erbarmen mit uns.“
Extremer, packender, mahnender auch als mit dieser Programmkombination kann man momentan kaum zum Nachdenken über humanistische Werte und die Gegenwart auffordern. Kent Nagano und die Philharmoniker hatten eben diesen Schostakowitsch und diesen Beethoven schon am 6. Februar 2022 als eher theoretischen Diskursbeitrag aufführen wollen, doch weil Chöre und Solisten dazugehören, verhinderte Corona den Spielplan. Jetzt, Anfang 2024, eine brutale Ironie der Zeitgeschichte, wirkt dieses Konzertkonzept ungleich eindringlicher und richtiger im Timing.
Elbphilharmonie: ein Konzert mit einer eindringlichen moralischen Botschaft
Es wirkte aber auch so stark und intensiv nach, weil Naganos Umgang insbesondere mit Schostakowitschs anklagender, wütender, sarkastischer Tonsprache über alle Abschnitte und Erzählperspektiven hinweg so analytisch klar blieb und nicht noch weiter verzerrte oder übertrieb, was ohnehin schon alle Mittel und Argumente voll ausreizte. Diese Großformatbewältigung liegt ihm.
Nagano ließ das Orchester im ersten Satz geifern und wüten, legte die Panik und die Grausamkeit bloß, danach die grelle Satire über den damaligen Umgang mit Humor als eine zielsichere Waffe gegen Unterdrückung. Das zu hören, kurz nachdem Alexej Nawalnys letzte per Video dokumentierte Äußerung vor seinem Richter in Sibirien ein kleiner, aber souveräner Witz auf dessen Kosten war, ist erschreckend und notwendig zugleich. Geschichte wiederholt sich.
- Elbphilharmonie: Currentzis, der Krieg und die vielen Widersprüche
- Festival-Eröffnung in Hamburg: Martha Argerich und Beethoven im Duell
- Elbphilharmonie: Ukrainischer Schmerz und Mut in große Musik gegossen
Der Bass Alexander Vinogradov war bereits im Oktober in eben dieser Solo-Partie im Großen Saal zu hören gewesen: Bei einer Aufführung der 13. mit dem politisch heftig umstrittenen Teodor Currentzis hatte er diese Rolle von einem Russen übernommen, der sich in sozialen Medien sehr putinfreundlich über den Angriff auf die Ukraine geäußert hatte. Auch der Estnische Nationale Männerchor glänzte in seinen Partien. Und die Idee, die Damen des Harvestehuder Kammerchors ihr „Trisagion“, von einer Solo-Violine (Konradin Seitzer) unsichtbar durch die geöffneten Türen des Backstage-Bereichs hören zu lassen, als Stimmen aus dem Nichts, war ebenso schlicht wie großartig.
Martin Helmchen langte von Anfang an satt hinein in den Flügel
Wie aus dieser Finsternis zurück in die Hoffnung und zum Licht finden? Beethovens Chorfantasie, eine in dieser Verbindung geradezu kindlich naive, fröhlich verspielte Feier der Menschlichkeit, die Beethoven mit Solo-Klavier, Chor und Vokalsolisten unbekümmert quer zu allen Konventionen aufs Notenpapier geworfen hatte. Martin Helmchen langte von Anfang an satt hinein in den Flügel, historische Informiertheit spielte dabei keine allzu tragende Rolle.
Nachdem Beethovens zentrales Ohrwurm-Motiv in der kleinen Cousine vom Finale der Neunten Sinfonie auch noch einige Runden durch die Instrumentengruppen gedreht hatte (leider ohne dabei Fahrt aufzunehmen oder markante Temperamentszuwächse zu erfahren), endete diese Fantasie über das Schöne, Gute, Wahre in strahlendstem Dur-Jubel. In der Wirklichkeit des Frühjahrs 2024 ist diese Art der Freude noch fürchterlich weit entfernt.
Das Konzert wird am 19.2., 20 Uhr, wiederholt. Evtl. Restkarten.