Hamburg. Hamburgs Ballettintendant feiert seine Choreografie „Odyssee“. Zugleich: Harte Kritik, da sein Ballett in Moskau gezeigt werden darf.

Wenn John Neumeier an diesem Sonnabend seinen 85. Geburtstag feiert, wird er natürlich in der Staatsoper sein – wo sonst? Die Wiederaufnahme seiner 1995 entstandenen Kreation „Odyssee“ über den jahrzehntelangen Irrfahrer aus dem gleichnamigen Epos des Dichters Homer überreicht der langjährige Intendant des Hamburg Balletts John Neumeier seinem Publikum aber auch sich selbst sozusagen als Geschenk.

John Neumeier kann in der laufenden, „Epilog“ überschriebenen, 51. und seiner letzten Saison als Ballettintendant eine eindrucksvolle Bilanz vorweisen: über 170 Choreografien hat er in seinem Leben geschaffen, viele davon befinden sich im Repertoire hochkarätiger internationaler Kompanien. Er selbst hat mit dem Hamburg Ballett eine der besten Tanzkompanien der Welt aufgebaut, eine Ballettschule gegründet und das Bundesjugendballett aus der Taufe gehoben. Mit all dem hat er Hamburg sehr prominent auf der Weltkarte des Tanzes platziert.

„Anna Karenina“ in Moskau: Ein kleiner Schatten auf John Neumeiers Ehrentag

Die Wahl der „Odyssee“ wirkt zeitgemäß, handelt sie doch von düsteren Themen: Krieg, Gewalt, Heimatverlust und verwundeten Seelen. Gerade deshalb fällt auch ein kleiner Schatten auf den Ehrentag. Denn Neumeiers Entscheidung, sein Ballett „Anna Karenina“ am 2. und 3. März für drei Aufführungen am Moskauer Bolschoi-Theater freizugeben, steht in der Kritik. Er tue dies „trotz der fundamentalen Distanz, die ich zum russischen Staat aufgrund seines zutiefst inhumanen Angriffskriegs gegen die Ukraine empfinde“, so Neumeier. Der Intendant begründet die Entscheidung inhaltlich mit dem subversiven Potenzial von „Anna Karenina“. Die Choreografie vermittle die humanen Werte, die das Regime missachte und sei zudem von einem homosexuellen US-Amerikaner geschaffen.

John Neumeier (r.), Intendant des Hamburg Balletts, mit seinem Stellvertreter Lloyd Riggins bei einer Probe zu „Odyssee“ im Ballettsaal im Ballettzentrum Hamburg.
John Neumeier (r.), Intendant des Hamburg Balletts, mit seinem Stellvertreter Lloyd Riggins bei einer Probe zu „Odyssee“ im Ballettsaal im Ballettzentrum Hamburg. © dpa | Marcus Brandt

„Die Werke vieler liberaler Künstler dürfen dort nicht gezeigt werden. Auch das ist ein Grund, warum ich will, dass die Menschen in Russland mein ‚Anna Karenina‘-Ballett sehen“, so John Neumeier. „Ich habe das sehr deutlich überlegt und es kann sein, dass ich dafür kritisiert werde, aber ich habe eine Meinung dazu.“

Hamburg Ballett: Neumeiers ablehnende Haltung zum russischen Krieg steht außer Frage

Nun steht Neumeiers ablehnende Haltung zum russischen Angriffskrieg außer Frage und ist durch sein Handeln beglaubigt. Er hat sein Ballett „Spring and Fall“ dem Kyiv National Ballet unentgeltlich zur Verfügung gestellt und dessen Tänzerinnen und Tänzer zur Nijinsky-Gala eingeladen, dem Exil-Ensemble Hamburger Kammerballett Probenmöglichkeiten verschafft und ukrainischen Tanznachwuchs in die Ballettschule aufgenommen. Einen Auftritt des Bolschoi in Hamburg hatte er für den Sommer 2023 abgesagt. Auch hatte er das jetzt greifende Vertragswerk mit dem Bolschoi nicht unter dem jetzigen Generaldirektor, dem ehemaligen Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker und Putin-Freund Valery Gergiev, geschlossen. Die Verabredung zu „Anna Karenina“ stammt aus einer Zeit, als noch Wladimir Urin Intendant des Bolschoi war, der sich kritisch zum Angriffskrieg geäußert hatte und daraufhin entlassen wurde.

An Neumeiers Entscheidung, seine Kunst in Moskau zu präsentieren, bleibt vieles trotz dieser Rechtfertigung unverständlich und irritierend. Der Idealismus, was die Menschen bewegende und Verhältnisse verändernde Macht einer Kunst betrifft, die von der Freiheit des Individuums erzählt, wirkt angesichts der von Aggression geprägten Realität in Russland überschätzt.

Im Vorfeld der Wiederaufnahme seiner Choreografie „Odyssee“ hatte der Intendant eine Stunde lang Einblicke in die tägliche Arbeit gewährt. Das Hamburger Abendblatt war dabei.

Alexandr Truschs zeigt sein Können meisterhaft.
Alexandr Truschs zeigt sein Können meisterhaft. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Die Tänzerinnen des Hamburg Balletts bewegen sich vor und zurück und schreiten dabei langsam vorwärts, während sie ihre sehr langen blauen Röcke raffen. „Bitte etwas langsamer. Hals gestreckt!“, ruft John Neumeier ihnen vom Rand des Saals zu. In der ersten Reihe probieren Alexandr Trusch als König Odysseus von Ithaka im Ringelshirt mit langen Stulpen und Olivia Betteridge als Göttin Kalypso, die Odysseus sieben Jahre lang auf ihrer Insel festhielt, in Jeans mit Spitzenschuhen einen innigen Pas de deux, in dem sie sich ineinander verschränken, die Glieder biegen und feine Hebefiguren ausführen. Nach dem Krieg gegen Troja wollte Odysseus eigentlich mit seinen Gefährten nach Hause zu seiner Frau Penelope zurückkehren, doch es warten weitere zehn Jahre der Irrfahrt und mancher Grausamkeit auf ihn. Jahre, in denen ihn immer wieder das Meer umfängt und die Göttin Pallas Athene, elegant getanzt von Ida Praetorius, seinen Sohn Telemachos auf die Suche nach ihm schicken wird.

Für John Neumeier ist die „Odyssee“ ein absolutes Antikriegsstück

Die 2005 zuletzt gezeigte Choreografie liegt John Neumeier am Herzen. So sehr, dass er sich die Wiederaufnahme zu seinem 85. Geburtstag sozusagen selbst zum Geschenk macht, wie er im Gespräch vor der Probe erzählt: „Wir haben in der letzten Spielzeit viel Repertoire gezeigt, um die Möglichkeit zu haben, diese Werke noch einmal in die Hand zu nehmen und auf ihre Relevanz für die Zukunft zu prüfen. Eine für mich wichtige Farbe, die gefehlt hat, ist die ‚Odyssee‘“, sagt Neumeier. Sie bilde für ihn ein Pendant zu „Dona Nobis Pacem“. „Für mich ist die ‚Odyssee‘ ein absolutes Antikriegsstück.“

Die Choreografie wurde zuletzt 2055 gezeigt, sie liegt John Neumeier am Herzen. Er hat sich die Wiederaufnahme zum 85. selbst zum Geschenk gemacht.
Die Choreografie wurde zuletzt 2055 gezeigt, sie liegt John Neumeier am Herzen. Er hat sich die Wiederaufnahme zum 85. selbst zum Geschenk gemacht. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Als der künstlerische Leiter des Athener Opern- und Konzerthauses Megaron, Claus Helmut Drese, ihm seinerzeit die Idee antrug, habe er erst nach mehreren Gesprächen und Klarheit über die Musik die Uraufführung für 1995 zugesagt. Auch weil er es als Privileg empfand, solch ein Werk aus seiner Sicht im Land der Entstehung dieses Werkes aufzuführen. „Ich habe die Musik von vielen griechischen Komponisten angehört, bevor ich mich für George Couroupos entschieden habe und er den Kompositionsauftrag für dieses Werk bekam. Durch die Inspiration seiner Musik ist eine ganz eigene choreografische Sprache entstanden.“

Neumeier hat keine Hemmungen, Details an der Choreografie zu ändern

Diese Musik dringt während der Probe ziemlich bedrohlich und unmelodisch aus dem Off mit viel Xylofon, Schlagwerk und Bläsern. Eine Szene wird probiert, in der die von Charlotte Larzelere getanzte, in Ithaka wartende Gefährtin des Odysseus, Penelope, von einer Gruppe Freiern in Anzügen mit bloßer Brust bedrängt und emporgehoben wird. Am Bühnenrand schaut John Neumeier kritisch inmitten der Ballettmeister zu. Normalerweise verteilen sie sich auf mehrere Proben. „Ich bin wie ein Arzt, der seine Visiten macht, gehe durch die Säle und schaue und prüfe, ob das, was gezeigt wird, noch eine Relevanz hat“, erläutert John Neumeier. „Ich habe keine Hemmungen, Dinge zu ändern. Das Konzept greift ja eine Idee des japanischen No-Theaters auf. Alles spielt sich in einem Raum ab, sozusagen in einem Holzrahmen. Das bleibt natürlich. Die Aussage des Stückes hat sich nicht verändert. Aber einige Aspekte lassen sich mit meiner heutigen Lebenserfahrung vielleicht noch besser ausdrücken und intensivieren.“

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Eine neue Szene entwickelt sich. João Santana wird als Odysseus‘ Sohn Telemachos von Ida Praetorius‘ Pallas Athene beeindruckend geschmeidig zur Suche nach dem Vater bewegt. Er ist das Symbol der Hoffnung in dieser Irrfahrt, die für Odysseus eine Reise der Verwandlung, eine Form von Heilung bedeutet. „Männer und Frauen, die kämpfen, brauchen Zeit, um diesen Kriegszustand hinter sich zu lassen – auch Aspekte in ihnen selbst“, so John Neumeier. „Die Mischung aus maskulin und feminin ist im Grunde der Sohn Telemachos. Er verkörpert eine mögliche friedliche Zukunft.“

John Neumeier während einer Probe zur „Odyssee“ in einem Saal des Ballettzentrums Hamburg
John Neumeier während einer Probe zur „Odyssee“ in einem Saal des Ballettzentrums Hamburg © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Das Kriegs-Thema, die Konflikte unserer Zeit beschäftigen den Choreografen nachhaltig. Dazu gehört auch, dass er soeben dem Moskauer Bolschoi-Theater drei Aufführungen seiner „Anna Karenina“ erlaubt hat. „Die russische Regierung lehnt ja grundsätzlich ab, wenn Ausländer literarische Themen Russlands in ihren Augen verdrehen. Bei mir wird die Figur des Lewin dargestellt durch die Musik von Cat Stevens/Yusuf Islam, der ein absoluter Gegner jedes Krieges war“, erklärt John Neumeier. „Die Werke vieler liberaler Künstler dürfen dort nicht gezeigt werden. Auch das ist ein Grund, warum ich will, dass die Menschen in Russland mein ‚Anna Karenina‘-Ballett sehen.“

John Neumeiers Auftragsbuch ist gut gefüllt

Es scheint, als wolle John Neumeier den hohen Anspruch an seine Arbeitsweise noch einmal vorführen. Bewusst hat er dafür nicht seine letzte Kreation mit dem Ensemble als Intendant ausgewählt, bevor er zum Ende der Saison die Verantwortung an seinen Nachfolger Demis Volpi übergibt. Es sei wie bei jedem Übergang, hält er sich bedeckt. „In diesem Moment denke ich: Er gelingt mehr oder weniger.“ Pläne für die Zeit danach hat John Neumeier reichlich. Das Auftragsbuch ist gut gefüllt. Worauf er sich am meisten freut? „Dass ich nicht mehr ein schlechtes Gewissen habe, wenn ich nach Australien gehe oder nach Südkorea oder nach Wien, um mit einer anderen Kompanie zu arbeiten.“

An „Epilog“, deren Uraufführung am 30. Juni ansteht, arbeite er bereits in seiner Seele. Der Ballettchef verrät nur so viel: „Das ist kein Werk, über das ich gerne spreche. Es hat keine Geschichte oder einen klaren musikalischen Rahmen. Es ist das, was der Titel sagt – das, was es ist.“

„Odyssee“Wiederaufnahme 24.2., 19 Uhr, Hamburgische Staatsoper, Dammtorstraße 28, Karten unter T. 35 68 68; www.hamburgballett.de