Hamburg. In St. Petersburg stand der junge Hamburger Tänzer Caesar Elsner vor der Frage: Wie unpolitisch kann Kunst in Kriegszeiten sein?
Irgendwann ist er auf die Straße gegangen, mitten in der Nacht, und zum Geldautomaten gelaufen. 200 Euro in bar sind ein beruhigendes Gefühl, für alle Fälle, falls irgendwann auch die deutschen Banken in St. Petersburg von Zahlungsverkehr abgeklemmt werden sollten. In den Tagen zuvor hatten sie stundenlang im Café gesessen, er und andere junge Tänzerinnen und Tänzer aus aller Welt, schockiert Nachrichtenvideos auf Spiegel TV und Instagram verfolgt, und gegrübelt: Was machen wir jetzt? Kann es sein, dass der Bombenhagel auf Mariupol und Kiew auch unsere Träume zerschießt?
Bald ging es für den Hamburger Caesar Elsner (21) nicht mehr nur um den eigenen Alltag in St. Petersburg zwischen Training, Bühnenprobe am traditionsreichen russischen Michailowski-Balletttheater und WG-Zimmer. Sondern um größere Fragen. „Ich habe immer gesagt: Das ist nicht mein Krieg, das ist nicht mein Land“, sagt der junge Mann mit dem schmalen Tänzerkörper. „Ich glaube an die verbindende Wirkung von Kunst, ich will russischen Bekannten nicht sagen, was richtig oder falsch ist. Ich habe das Thema lieber ausgeklammert. Aber irgendwann wurde mir klar: Jetzt in Russland zu bleiben, ist auch schon fast ein Statement.“
Anfang März packte Elsner seine Sachen
Als Anfang März schließlich auch die Warnungen des Auswärtigen Amtes dringlicher wurden, seine Mutter von St. Pauli aus besorgte Handynachrichten im Stundentakt schickte und der Kreml mit einer höheren Stufe der Angriffsbereitschaft drohte, waren die innere und äußere Spannung nicht mehr auszuhalten. Elsner packte, suchte nach möglichen Busverbindungen über Helsinki nach Hamburg und sprach mit den Theaterchefs.
„Sie waren sehr verständnisvoll und unterstützend“, sagt er, „ich bin für fünf Monate unbezahlt freigestellt und kann jederzeit zurückkommen.“ Doch ob und wann, kann derzeit keiner voraussehen. Nach heutigem Stand könnte St. Petersburg auch noch im Spätsommer die Kulturmetropole einer kriegführenden Nation sein.
Elsners Geschichte zeigt die Verwerfungen, die durch den Krieg entstehen
„Selbstverständlich ist meine Geschichte nicht vergleichbar mit dem, was die Menschen in der Ukraine derzeit erleiden“, betont er. Aber sie zeigt, welche Verwerfungen durch den Überfall auf das Nachbarland entstehen, auch in der Kulturszene. In Russland wie international, an der Spitze – man denke an die Kontroverse um den geplanten und schließlich abgesagten Auftritt der Sopranistin Anna Netrebko in der Elbphilharmonie – und dort, wo Karrieren erst beginnen.
Denn Caesar Elsners unfreiwillige Rückkehr nach Hamburg markiert einen Knick an einem Punkt, der ein Durchbruch hätte sein können. Gerade einmal sieben Jahre ist es her, dass der damals 14-Jährige in einer Ballettschule in Hoheluft seine ersten Pliés an der Stange übte. Schon wenige Monate später bewarb er sich selbstbewusst bei der Ballettschule des Star-Choreografen John Neumeier, zog als blutiger Anfänger unter Fortgeschrittenen zwar den Kürzeren, aber auch die Blicke auf sich. „Man sagte mir, ich hätte Potenzial, und wenn ich wollte, könnte ich in den Herbstferien für zwei Wochen mittrainieren“, erinnert er sich, „das hat mir einen echten Kick gegeben.“
Während der Pandemie zog Elsner von St. Pauli nach St. Petersburg
Schließlich nahm Ballett in seinem Leben immer mehr Raum ein, anderes musste Platz machen. Nach dem Mittleren Schulabschluss wurde er an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper aufgenommen, wollte eigentlich parallel zur Tanzausbildung sein Abitur machen, verzichtete aber zugunsten zusätzlicher Trainingsstunden. „Wer wirklich gut sein will, muss hundert Prozent geben.“ Zu Beginn der Pandemie 2020 wurden er und die anderen internationalen Schüler nach Dreiviertel der Ausbildung nach Hause geschickt. Ein Dämpfer, der sich als Glücksfall entpuppte – jedenfalls zunächst. Seine Bewerbung überzeugte die russische Waganowa-Akademie.
Ein halbes Jahr nach der coronabedingten Unterbrechung ging Elsner von St. Pauli nach St. Petersburg und nahm seine Ausbildung wieder auf – diesmal dort, wo die ganz Großen ihre Ballettkarriere starteten, Nurejew, Nijinksy, Baryshnikov. Auch Olga Smirnowa, die gerade aus Protest gegen den Krieg ihren Posten als Primaballerina am Moskauer Bolschoi-Ballett niedergelegt hat und nun nach Amsterdam wechselt.
Vor drei Monaten stand er zum ersten Mal auf der Bühne
Eine Crowdfunding-Aktion half, das stattliche Schulgeld zu finanzieren, und von da an machte der Nachwuchstänzer zunehmend größere Sprünge. Abschluss im Sommer 2021, Mitte November Vertragsunterzeichnung am Michailowski-Opern- und Balletttheater, einem der zwei größten und bedeutendsten Häuser St. Petersburgs. Ende Dezember, vor drei Monaten, stand er zum ersten Mal auf der Bühne, bei einer Aufführung von „La Bayadere“. Fragt man ihn nach seinen Gefühlen in dem Moment, ringt er nach Worten. „Verrückt. Unbeschreiblich.“
Im Januar begannen die Proben für „Spartakus“, es wäre seine erste kleine Solorolle gewesen. Wenige Wochen später zogen Wladimir Putins Truppen in den Krieg, die Reihen im Ensemble lichteten sich.
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"In Kriegszeiten ist alles politisch, das Gehen wie das Bleiben"
Das Leben dort geht weiter, die Proben, die Aufführungen. „Diejenigen, die noch da sind, bekommen jetzt die größeren Rollen, und das freut mich für sie“, sagt Caesar Elsner. „Ich frage mich aber auch: Wird man ihnen später vorwerfen, dass sie nach dem Einmarsch in der Ukraine weitergemacht haben?“ In Kriegszeiten ist alles politisch, das Gehen wie das Bleiben. Besonders hart trifft es die ukrainischen Ensemblemitglieder, sagt Elsner: „Wo sollen sie hin, zurück in ein zerstörtes Land oder als Flüchtlinge ins Ausland? Also tanzen sie weiter, egal, wie schlecht es ihnen geht.“
Dagegen fällt er weich, und das weiß er. Aufgeben? Keine Option. Seine Familie ist erleichtert, ihn in Sicherheit zu wissen, die Bühnenwelt zeigt sich solidarisch. Trotzdem ist Hamburg Vergangenheit für ihn, nicht Zukunft. Zeitgenössische Choreografie reizt ihn weniger als die Art von klassischem Tanz, wie er sie in St. Petersburg gelernt hat. Zwei Optionen gibt es derzeit für ihn, Ensembles in Tschechien und in Kroatien.
Es stimmt, Kunst kann Grenzen überwinden. Aber seit dem 24. Februar ist die Welt ein Stück kleiner geworden.