Hamburg/Düsseldorf. Demis Volpi leitet noch das Düsseldorfer Ballett am Rhein. Im Interview spricht er über kindliche Glückstränen, Traditionen und Pläne.
Wohl keine Personalentscheidung wurde – weit über Hamburg hinaus – mit mehr Spannung verfolgt als die, wer John Neumeier als Intendant des Hamburg Ballett nachfolgen soll. Inzwischen ist bekanntlich die Wahl der Findungskommission auf Demis Volpi gefallen, derzeit noch Direktor und Chefchoreograf des Düsseldorfer Balletts am Rhein. der zur Saison 2024/25 die Leitung des Hamburg Balletts übernimmt.
An einem sonnigen Tag steht der 37-Jährige in seinem Büro, hinter dem Schreibtisch erhebt sich ein großes dunkelrotes Gemälde der Malerin Ulrike Arnold. Eine Malerei, für die sie Erden aus der chilenischen Atacama-Wüste verarbeitet hat. „Fassen Sie es ruhig an“, sagt Demis Volpi fröhlich. „Die Künstlerin wünscht das ausdrücklich.“ Er ist zugewandt, offen, sehr herzlich. Und das, obwohl es der Tag seiner „Krabat“-Premiere ist und durch lange Probenzeiten einiges an Schlaf fehlt.
Hamburger Abendblatt: Herr Volpi, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie für die Nachfolge John Neumeiers angefragt wurden?
Demis Volpi: Es war schon ein Prozess, in dem ich mich an die Idee gewöhnen und mich auch mit verschiedenen Aspekten dieser Ernennung vertraut machen konnte. Beim ersten Kontakt war ich erstaunt und erschrocken, weil ich damit gar nicht gerechnet hatte. Ich hatte ja geplant, hier beim Ballett am Rhein weiterzumachen, und meine ganze Konzentration liegt auf dieser Compagnie. Es fing gerade an, gut zu laufen, nachdem es zehn Monate gedauert hat, bis pandemiebedingt alle Tänzer sich einmal kennengelernt haben. Dann kam der Anruf, der alles durcheinanderbrachte.
Wie haben sich die Gespräche entwickelt?
Ich habe hier eine große Unterstützung und auch sehr gute Arbeitsbedingungen. Um das aufzugeben, habe ich wirklich einen sehr guten Grund gebraucht. Es war wichtig, dass man John Neumeier in die Entscheidung mit einbezieht. Es geht ja auch sehr stark darum, die Qualität des Repertoires zu sichern, und zwar nach den Vorstellungen dieses zeitgenössischen Künstlers, der seine Vision weiter verwirklicht sehen will. Es ist eine wirklich große Ehre für mich. Ich freue mich wahnsinnig auf diese Zeit!
Sie sind mit 37 Jahren noch sehr jung, macht Ihnen die neue Herausforderung manchmal auch Angst?
Es gibt Momente, in denen ich Angst vor meiner eigenen Courage habe, aber letztlich geht es allen um die Sache. Alle wollen, dass es funktioniert. Ich kann nur auf meinen inneren Kompass hören und weiterhin mein Leben dieser Kunstform widmen. Um der Compagnie eine Zukunft zu geben, eine neue Zeit einzuläuten, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Ich hoffe, dass es auch gelingt, das Publikum mitzunehmen, das in Hamburg sehr besonders ist. Ich kann aber nur das tun, wovon ich überzeugt bin. Das ist meine künstlerische Integrität und die bleibt bestehen.
Welches Verhältnis haben Sie zu John Neumeier?
Er hat vor Kurzem eine Choreografie für den Düsseldorfer Abend „Vier neue Temperamente“ beigesteuert. Ich kannte ihn als Schüler während meiner Ausbildung in Kanada. In Stuttgart habe ich ihn als Tänzer häufig erlebt. Das waren immer sehr inspirierende Erfahrungen und Begegnungen. Später hat er mich nach Hamburg eingeladen, um mit der Ballettschule und dem Bundesjugendballett zu arbeiten.
Was mich sehr berührt hat, war, dass er so eine Offenheit hat. Als ich ihn hierher eingeladen habe, haben mich seine Bescheidenheit und seine Ehrlichkeit sehr beeindruckt. Ich glaube, dass der Dialog, der jetzt notwendig ist, gelingen wird, weil wir beide einen großen Respekt für unsere Kunstform haben. Das verbindet uns.
Was ist das Besondere am Hamburg Ballett?
Eine enorme Individualität nicht nur in den einzelnen Tänzerinnen und Tänzern, sondern auch in den Darstellerinnen und Darstellern. Ein tiefes Verständnis für das Repertoire. Sie tauchen wirklich in die Werke ein und setzen sich nicht nur mit den Schritten auseinander, sondern auch mit den Musikwerken und der Literatur. Das ist fantastisch. So sollte man arbeiten.
Wie ist Ihre erste Begegnung mit dem Ballett verlaufen? Waren Sie familiär vorgeprägt? Sie haben ja bereits im Alter von vier Jahren angefangen zu tanzen.
Das ist eine etwas skurrile Geschichte. Ich bin eines Morgens aus dem Bett gesprungen und habe meiner Mutter gesagt: „Ich werde Ballett-Tänzer!“ Ich weiß nicht, warum. Alle fanden es lustig und süß. Meine Mutter hat mich dann zum Ballettunterricht in ein kleines Hinterhaus gebracht. Danach habe ich geweint und gesagt: „Ich bin so glücklich, ich habe das entdeckt, was ich tun will“. Dieses Gefühl hat sich nie verändert. Es kam von innen. Vielleicht auch von oben.
Sie erhielten Ihre Ausbildung in Argentinien und an Kanadas National Ballet School, bevor Sie zum Stuttgarter Ballett gingen. Wie haben Ihre Lehrer Sie geprägt?
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Ich bin immer Menschen begegnet, die großzügig genug waren zu sagen, jetzt brauchst du jemand anderen. Eine wichtige Station war die Ballett-Schule des Teatro Colón in Buenos Aires und ihr heutiger Ballett-Direktor Mario Galizzi. Im Jahr 2000 hat meine Familie – wir waren drei Kinder – entschieden, dass wir nach Spanien auswandern. Mein Vater hat die Staatspleite ein paar Monate vorher irgendwie gerochen.
Wir haben alles eingepackt, was wir mitnehmen konnten. Im Sommer hatte ich ein Stipendium in Dänemark, wo ich zwei Tänzer aus Kanadas National Ballet School traf, und dann wollte ich unbedingt an diese Schule. Es war eine der wenigen, wo ich meine akademische Ausbildung fortsetzen konnte. Nach zwei Jahren in Kanada war es Zeit, näher bei meiner Familie zu sein. Aus der Tanzgeschichte hat mich John Cranko sehr fasziniert, und dann bin ich in Stuttgart aufgenommen worden.
Aus dem Stuttgarter Ballett kommen ja sehr viele der großen Ballett-Tänzer.
Oh ja. John Neumeier, William Forsythe, Uwe Scholz, Jiří Kylián. (lacht)
Was für ein besonderer Geist herrscht dort?
Ich habe John Cranko leider nicht persönlich erlebt, aber ich fühle mich ihm nahe, weil ich seine Stücke sehr intensiv erlebt habe. Ich denke, dass Cranko ein sehr einsamer Mensch war, aber er hat ein Gespür dafür gehabt, was aus den Menschen um ihn herum werden könnte. Er wollte, dass andere Stimmen in seiner Compagnie einen Raum haben, und so wurde es ein sehr kreativer Ort.
Stuttgart hatte schon immer eine sehr starke Tanztradition. Um 1760 hat Prinz Eugen Niccolò Jommelli geholt, einen italienischen Komponisten, der versucht hat, die Oper zu reformieren als Bindeglied zwischen barocker Oper und Mozart. Er hatte den Gedanken, dass der Tanz in der Oper nicht nur der Unterhaltung dienen, sondern eine dramaturgische Funktion erfüllen sollte. Später holte man Jean Georges Noverre als Hofchoreograf, und das Ballett wurde gegründet.
2013 haben Sie bereits „Krabat“ für das Stuttgarter Ballett inszeniert, woraufhin Sie Hauschoreograf wurden. Werden Sie das Ballett, das als eine Art Signaturstück von Ihnen gilt, auch nach Hamburg bringen?
Ich denke ja, aber ich weiß nicht, wann. Wenn ich ein Stück erzähle, dann immer aus der Zeit heraus, um es lebendig zu halten. Das hat immer mit dem Jetzt zu tun. Der Tanz hat keine Vergangenheit und keine Zukunft, er ist immer in der Gegenwart. Auch das Neumeier-Repertoire muss lebendig bleiben. Repertoirepflege klingt für mich nach Möbelpolitur.
Sie gelten als vielseitig und sowohl in Handlungsballetten als auch in abstrakten Arbeiten zu Hause. Worin liegt für Sie der größte Reiz?
Immer im nächsten Stück. Es gibt Choreografen, die wie Mondrian eine Form gefunden haben, mit der sie alles ausdrücken. Für mich geht es jedes Mal darum, eine Welt zu erschaffen. Eine Welt, die es ermöglicht, einzutauchen, eine Empathie zu empfinden, für das, was geschieht. Das finde ich auch bei einem abstrakten Stück wichtig.
Das Theater ist der einzige Ort in unserer Gesellschaft, an dem wir gemeinsam mit anderen zuschauen und zuhören. Dieses geteilte Erlebnis müssen wir bewahren. Das ist ein gewaltiges kulturelles Erbe. Es ist auch ein sehr feiner und hoher Ausdruck von Menschlichkeit. Deshalb glaube ich, dass die Arbeit, die wir machen, immer mit Menschen zu tun haben muss.
Würden Sie sich als Neo-Klassiker bezeichnen?
Meine choreografische Sprache entsteht aus dem Kanon des klassischen Balletts heraus. Es gibt aber auch Stücke, in denen ich darüber hinausgehe. Ich spiele zum Beispiel gerne mit Theatermitteln, überschreite die Grenze vom Tanz ins Schauspiel.
Warum haben Sie sich überhaupt der Choreografie zugewandt und wollten nicht länger Tänzer sein?
Ich habe das Choreografieren aus dem Gefühl heraus entdeckt, dass ich mehr wollte. In meiner Stuttgarter Zeit war ich sehr jung und nicht so geduldig. Ich musste auf spannende Rollen oft warten. Ich habe dann mein erstes Stück für die Noverre-Gesellschaft kreiert. Dann hatte ich eine Begegnung mit den Regisseuren Jossi Wieler und Sergio Morabito. Für die Oper „La Juive“ hatten sie mich gebeten, eine Szene mit den Kindern der Ballettschule zu choreografieren und mich in den kreativen Prozess mitgenommen.
Diese Reise hat mir die Möglichkeiten des Theaters gezeigt, Welten zu schaffen. Damit einher ging, dass ich mit der Zeit sehr nervös wurde, wenn ich auf die Bühne musste. Mit 23 Jahren stand ich vor der Entscheidung, weiter zu tanzen und alles zu geben oder zu choreografieren. Das Bedürfnis, die Stücke zu teilen, die in mir stecken, war dann viel wichtiger für mich.
Welche zeitgenössischen choreografischen Sprachen interessieren Sie? In Düsseldorf zeigen Sie ja Arbeiten von Marcos Morau, William Forsythe oder Azure Barton, die in Hamburg bereits auf Kampnagel gearbeitet hat.
Ich denke, man sieht, dass ich meine Arbeit im Kontext von zeitgenössischen Choreografen sehe. Die Tänzerinnen und Tänzer sind heute so gut ausgebildet, dass sie sehr vieles können. Und das kann eine einzelne Choreografen-Persönlichkeit nicht alles erforschen. Für mich sind Gäste eine enorme Bereicherung. Was sie beschäftigt, wie sie arbeiten, wie sie die Strukturen herausfordern, das ist großartig. Die Compagnie bleibt auch im Kopf sehr flexibel. Wir können Welten erforschen, schauen, wo geht die Reise hin? Was macht den Tanz heute aus?
Sie haben auch schon bei Ihrer Vorstellung verkündet, dass nicht nur eigene Kreationen im Fokus stehen und dass Sie viele choreografische Sprachen zeigen wollen. Warum ist das wichtig?
Ich denke, gerade weil die Compagnie von einem Künstler sehr geprägt war, kann das nur bereichernd sein. Deshalb habe ich ihn auch eingeladen, bei uns zu arbeiten. John Neumeier ist kein Künstler der Vergangenheit, sondern ein zeitgenössischer Künstler, der jetzt sehr präsent ist. Es geht darum, aus der Zeit heraus etwas aufzubrechen. Den Mut zu haben, Sprachen zuzulassen, die ganz anders funktionieren.
Und auch zu schauen, wo befindet sich die Compagnie? Es wird ein Prozess sein. Ich werde nicht 2024/25 einen Spielplan präsentieren, der der Welt die Zukunft des Tanzes erklärt. Ich denke, es ist eine enorme Chance, Hamburg als Weltstadt des Balletts zu erhalten. Natürlich ist es ein Abschied von einer Ära. Die Arbeit von John Neumeier wird aber immer präsent sein in Hamburg.
Werden Sie das Ensemble verändern und Tänzerinnen und Tänzer aus Düsseldorf mitnehmen?
Ich will erst einmal die Hamburger Compagnie näher kennenlernen. Und ich hoffe, dass sich die meisten dafür entscheiden, mit mir zu arbeiten. Das ist eine fantastische Compagnie. Erst wenn ich weiß, wer nicht mehr da sein wird, kann ich anfangen, darüber nachzudenken, was die Compagnie braucht.
Werden Sie an Traditionen wie den Hamburger Ballett-Tagen festhalten?
Mit dieser Tradition darf man nicht brechen. Die Hamburger Ballett-Tage sind ein weltweiter Magnet. Auch die Ballett-Werkstätten sind ein wahnsinnig gutes Format. Natürlich werde ich sie inhaltlich anders gestalten. Auch eine Ballett-Werkstatt wird anders ablaufen, wenn ich auf der Bühne stehe. Die Kanäle, die aufgebaut wurden, abzubrechen, wäre ein falsches Signal.
Das Hamburg Ballett: hamburgballett.de