Hamburg. Wegen des Krieges in der Ukraine verließ Olga Smirnova Moskau. Im Interview verrät sie, warum sie nun auch in der Hansestadt tanzt.

Bis zum März dieses Jahres war die Primaballerina Olga Smirnova der größte Star des Moskauer Bolschoi-Balletts. Doch nachdem Ende Februar der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine begonnen hatte, war plötzlich nichts mehr wie vorher: Mitte März verließ Smirnova das legendäre Ballett und ihre Heimat und floh nach Amsterdam, wo sie am Niederländischen Nationalballett ein neues künstlerisches Zuhause fand.

Eine enge Zusammenarbeit besteht seit Jahren auch mit John Neumeier und dem Hamburg Ballett. Ab dem 18. September tanzt sie für einige Termine in der Wiederaufnahme seiner Choreografie „Dritte Symphonie von Gustav Mahler“. Begegnung mit einer Tänzerin, die eine einzigartige Eleganz, Fragilität und Stärke in sich vereint.

Hamburger Abendblatt: Frau Smirnova, Sie haben das Bolschoi-Ballett, dem Sie von 2011 bis 2022 und seit 2016 als Erste Solistin angehörten, in einem frühen Stadium des russischen Krieges gegen die Ukraine verlassen. Wie schwer ist Ihnen die Entscheidung gefallen und wie denken Sie heute darüber?

Olga Smirnova: Ich habe das Gefühl, dass dies ein absolut unvermeidlicher Schritt für mich war. Es ist immer noch schwer zu akzeptieren, was da vor sich geht mit all der Gewalt und dem menschlichen Leid. Und ich weiß nicht, wie ich jetzt in Russland bleiben könnte, denn die politische Repression hat enorm zugenommen. Wenn man dort lebt und arbeitet, muss man offiziell die Maßnahmen der Regierung unterstützen oder zumindest so tun, als ob man das täte. Für mich würde das bedeuten, dass ich das, woran ich glaube, zurücknehmen müsste, und das möchte ich nicht tun.

Fühlen Sie sich als Künstlerin beim Niederländischen Nationalballett wohl? Haben Sie dort inzwischen eine neue Heimat gefunden?

Ich bin sehr dankbar, dass der künstlerische Leiter Ted Brandsen mich mit offenen Armen empfangen hat. Ich habe die großartige Gelegenheit, einige sehr gute klassische Produktionen und die Ballette von Hans van Manen zu tanzen. Ich freue mich sehr, mit Larissa Lezhnina, einer großen Ballerina der Vergangenheit, zusammenzuarbeiten. Sie bewahrt alle Traditionen des klassischen Balletts, die zur Waganowa-Ballettakademie und zum Mariinsky-Theater in Sankt Petersburg führen, das für uns beide Heimatstadt ist.

Einige russische Kulturschaffende haben sich nicht von Putins Krieg distanziert, und ihre Auftritte wurden deshalb von Veranstaltern überall auf der Welt abgesagt. Wie sehen Sie das?

Man kann Kunst und Künstler von der Politik trennen. Aber das ist nur bis zu einem bestimmten Punkt möglich. Ich hatte mit Politik nichts zu tun, aber als der Krieg begann, hatte ich das Gefühl, dass wir diesen Punkt weit überschritten haben. Dass man nicht gleichgültig bleiben kann und eine Entscheidung treffen muss, die wahrscheinlich nicht die Welt verändern wird, aber man kann sich selbst gegenüber treu und ehrlich bleiben.

Sie waren die einzige russische Tänzerin, die sich öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen hat. In einem Interview sagten Sie, Ihre Lieblingsschriftsteller Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski hätten Sie dazu inspiriert. Inwiefern?

Als wir mit John an „Anna Karenina“ gearbeitet haben, war das eine gute Gelegenheit, das Buch noch einmal zu lesen und das Talent des Schriftstellers zu bewundern, der alle Figuren so verständlich, real und wahrhaftig gestaltet hat, dass man sich in jede von ihnen hineinversetzen kann. In diesen Romanen lernt man etwas über Barmherzigkeit, Mitgefühl und die Fähigkeit zu verzeihen.

Was kann die Kunst, was kann in Ihrem Fall das Ballett in einer zunehmend aus den Fugen geratenen Welt wie dieser tun, um etwas zu verändern?

Wir können unsere kleinen Dinge tun. Ich weiß, dass viele Wohltätigkeitsgalas für die Ukraine in der ganzen Welt stattgefunden und viele Tänzerinnen und Tänzer daran teilgenommen haben. Choreografen arbeiten mit der erst kürzlich gegründeten United Ukrainian Company. Ich denke, die mentale Hilfe ist wirklich wichtig, wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass der Krieg immer noch andauert.

Sie haben in verschiedenen Choreografien von John Neumeier, etwa „Anna Karenina“ und „Die Kameliendame“ getanzt. Jetzt wirken Sie bei der Wiederaufnahme von „Dritte Symphonie von Gustav Mahler“ mit. Wie würden Sie Ihre Beziehung zu John Neumeier beschreiben?

Für mich ist jede Begegnung mit John ein kostbares Geschenk, das ich sehr schätze. Seine Ballett-Welt ist etwas ganz Besonderes, voll von Schönheit, Bedeutsamkeit und tiefen Bedeutungen. Für mich ist Ballett eine Kunst der Schönheit und der Bewegung, und wenn man das Publikum mit Schönheit und Bewegung fesseln kann, kann man ihm auch wichtige Botschaften vermitteln. Das können Botschaften der Liebe, der Hoffnung, der Freundlichkeit oder des Mitgefühls sein. Das ist es, was John Neumeiers Arbeit für mich ausmacht. Es geht um diese ewigen Werte.

Wie sah Ihre erste Begegnung aus?

Ich war Anfang 20, als er am Bolschoi-Ballett „Die Kameliendame“ inszenierte. Ich war überwältigt von der dramatischen Rolle der Marguerite und von dem ganzen Prozess der Zusammenarbeit mit John Neumeier. Ich erinnere mich an die erste Probe. Er kam ins Studio und erzählte einfach die Geschichte von Marguerite und Armand und erklärte die Gefühle der Figuren. Es war so tief berührend, dass jeder im Raum Tränen in den Augen hatte. Seine Kunst ist sehr ehrlich und wahrhaftig, und deshalb wissen die Tänzer, die das Privileg haben, mit ihm zu arbeiten, wie man Ehrlichkeit auf der Bühne vermittelt. Ich finde das sehr wichtig und inspirierend für mich als Künstlerin.

Was hat Sie ursprünglich zum Ballett gebracht? Welche Bedeutung hat es für Sie persönlich?

Ich neigte immer dazu, dramatische Rollen zu spielen. Selbst im klassischen Repertoire hätte ich lieber Giselle oder Nikiya getanzt als Aurora oder Raymonda. Später, mit der Erfahrung der Ballerina, fand ich Gefallen daran, die fröhliche Aurora oder die edle Raymonda zu sein. Aber egal, welche Rolle ich tanze, Marguerite, Odette-Odile oder sogar ein Stück ohne Handlung, ich glaube, es sollte dem Publikum etwas bringen: die Schönheit der Bewegungen zusammen mit der Musik oder einige Botschaften, die zum Nachdenken anregen. Ich glaube, dass die Kunst des Balletts die Seelen der Menschen berührt und sie auch heilen kann. Meine erste Begegnung mit dem Ballett fand recht spät statt, als ich zehn Jahre alt war und meine Mutter mich in die Waganowa-Ballettakademie brachte. Meine Familie hatte keinen künstlerischen Hintergrund, und so war ich fasziniert davon, die für mich neue Welt des Balletts zu entdecken.

Die „Dritte Symphonie von Gustav Mahler“ beschäftigt sich mit Nietzsche, dem Dualismus von Zärtlichkeit und Aggression, aber auch mit der Gefahr des Krieges und der Hoffnung auf Frieden. Es geht um Liebe und Verlust. Mit welchen Gefühlen tanzen Sie unter den heutigen Umständen in dieser Choreografie?

Ich habe ein starkes Bild, das John mir für das wunderschöne Duett gegeben hat, das ich mit meinem unglaublichen Partner Edvin Revazov tanze. John sagte, wenn ich mich zum Publikum umdrehe, soll ich mir das schönste Land vorstellen, das vor mir liegt, und ich reiche dieser Schönheit meine Hand. Dieser Engel bringt Liebe, Licht und Hoffnung auf die Erde. Für mich ist das ein Anhaltspunkt für das Verständnis der Atmosphäre des Duetts. Das Schwierigste ist, die Einfachheit der Bewegungen zu erreichen, die die Spiritualität dieses schönen Duetts offenbart. Das bedeutet, dass es nicht sentimental, romantisch oder melancholisch aussehen sollte, sondern stark, einfach und spirituell.

Wie stellen Sie sich die Zukunft vor? Was wünschen Sie sich?

Ich sehe jetzt, dass mein Land krank ist, und mein erster Wunsch ist, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Der zweite Wunsch ist die Wiederherstellung des Ansehens des Landes. Wir Russen müssen für den Tod und die Zerstörungen, die unsere Führer verursacht haben, büßen. Und wir müssen lange und hart daran arbeiten, die Welt davon zu überzeugen, dass Russland ein Land des Friedens sein kann. Das wird eine schwierige Aufgabe sein, aber nur dann kann ich wieder stolz auf Russland sein.

„Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ 18.9., 18 Uhr, weitere Vorstellungen 20., 23., 25.9., jew. 19.30 Uhr, Hamburgische Staatsoper, Dammtorstraße 28, Karten unter T. 35 68 68; www.hamburgballett.de