Hamburg. Das neue Kollektiv von Exil-Regisseur Kirill Serebrennikov zeigt im Rahmen der Lessingtage die Uraufführung „Apokalypse Tomorrow“.
Das Ende der Welt ist eine schweißtreibende Angelegenheit. Adrenalin-Cocktails aufs Haus, Entgleisungen, ans Licht gespülte Traumata, Dauer-Rave, permanentes Flippen zwischen verzweifelter Angst und verzweifeltem Sex („Fear, Fuck, Fear, Fuck, Fear, ...“).
Oder was würden Sie tun, wenn die Apokalypse unmittelbar bevorstünde? Ist ein spannendes Gedankenexperiment, aber womöglich eher etwas für die Zeit vor oder nach der Vorstellung des hyperdynamischen Gastspiels „Apokalypse Tomorrow“ am Thalia in der Gaußstraße. Währenddessen nämlich ist Achterbahn ohne Anschnallen. Kirill & Friends, das neu gegründete internationale Team um den russischen Exil-Regisseur Kirill Serebrennikov, zeigt in der Regie seines engen Vertrauten Evgeny Kulagin ein atemberaubendes Hochenergie-Körpertheater, im Rahmen der Lessingtage ist es eine Uraufführung.
Thalia Theater: „Apokalypse Tomorrow“ ist eine Art Fundamental-Verausgabung
Dieses „Physical Theater“ (Choreografie: Ivan Estegneev) stellt sich dem Weltuntergang – beziehungsweise, so genau muss man sein: den Stunden und Minuten davor – in einer Art Fundamental-Verausgabung auf der Grenze zwischen Tanz, Performance und Theater. Kollektiv erarbeitet mit den russischen, deutschen, französischen, indonesischen und amerikanischen Serebrennikov-Mitstreitern wie Nikita Kukushkin und Odin Lund Biron, die dem Thalia zum Teil bereits eng verbunden sind. Einige kennt man aus der Inszenierung „Der schwarze Mönch“ oder aus dem musikalischen Überwältigungs-Manifest „Barrocco“.
Sie schonen sich nicht. Die Darsteller nicht und die mit ihnen verschmelzenden Figuren erst recht nicht, in ihrer Sehnsucht danach, frei von Verurteilungen zu sein, unabhängig davon, wie einen andere sehen. Wenn sie die Texte von Mikhail Durnenkov und dem Ensemble sprechen, dann meist auf Englisch, manchmal auch in der eigenen Muttersprache. Die Umgebung ist weniger entscheidend. Man ist, wo man halt ist, wenn die Welt untergeht. In diesem Fall: zwischen mit Grünzeug gefüllten Gartencenter-Regalen (Ausstattung: Ksenia Peretrukhina), die mal als Schutzraum dienen, mal als verschiebbares Klettergerüst die Gaußstraßen-Bühne nach oben erweitern. Davor, daneben, dazwischen: eine heterogene Gruppe, die Grenzen von Lächerlichkeit oder Scham angesichts des drohenden Endes überwindet. Zu verlieren haben sie schließlich alle nichts mehr.
Thalia Theater: „Apokalypse Tomorrow“ – Was tun mit den finalen Minuten?
Das ist bisweilen auf tragische Weise komisch, wenn dramatisch heruntergezählt wird, aber gar kein Weltuntergang eintritt („Oh shit, nothing happened“). Ein Wunder? Gott? Oder ist bloß die Uhr „fucking broken“? Die Apokalypse wird um eine Stunde verschoben, mehr Zeit, um eine letzte Nachricht aufzunehmen, seine Unterwäsche zu suchen, dem Nebenmann eine Massage aufzuzwängen und zu überlegen, wer man wohl gewesen wäre, hätte man immer „die absolute Freiheit“ gehabt: ein Mörder, ein Vergewaltiger oder ein netter Kerl?
Was also tun mit den finalen Minuten? Eine Frau (zierlich und zäh: die ausgebildete Tänzerin Capucine Schattleitner) erfüllt sich mit tatkräftiger und vor allem lautstarker Unterstützung der Gruppe einen letzten Wunsch: Sie würde so gern gebären. Wie gut, dass sich jemand findet, der wiedergeboren werden möchte. Und vielleicht muss man über die Menschheit am Rande des Kollapses ja wirklich nicht viel mehr wissen, als dass es offenbar Särge mit QR-Code gibt. Der, wenn man ihn scannt, leider wenig über das Jenseits verrät. Oder alles: Der QR-Code führt nirgends hin.
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Einen zarten Moment gibt es, als Svetlana Mamresheva sich nach Tränen sehnt und von der Gruppe versorgt wird. Aber „Apokalypse Tomorrow“ ist vor allem ein vehementer, ein getriebener, ausschweifender Abend. Mehr Verlust als Hoffnung, mehr Wut als Trauer. Aggression ist ein starker Treibstoff, zwischen Tanz und Kampf ist der Unterschied nicht immer auszumachen. Die absolute, existenzielle Verausgabung der Darsteller, die sich hier in mehrfacher Hinsicht entblößen, ist auch im Publikum fast körperlich zu spüren. Die Herkunftsgeschichte dieses Ensembles ist dem Abend deutlich eingeschrieben. Ein Weltuntergang ist kein Spaziergang. Heftiger Applaus.
„Apokalypse Tomorrow“ist an diesem Donnerstag (1.2., 20 Uhr) im Rahmen der Lessingtage noch einmal am Thalia in der Gaußstraße zu sehen (ausverkauft), anschließend gibt es ein von Catarina Felixmüller moderiertes Publikumsgespräch. Die Lessingtage laufen noch bis zum 4. Februar, Karten und Programm unterwww.thalia-theater.de