Hamburg. In „Der Wij“ bringt der russische Regisseur die Entmenschlichung des Krieges auf die Bühne. Vor der Vorstellung wurde demonstriert.

Wer die Premiere des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov im Thalia in der Gaußstraße besuchen möchte, muss an ihnen vorbei. 20 oder 25 ukrainische Demonstrantinnen und Demonstranten rahmen die Einfahrt zum Hofgelände mit Schildern, blau-gelben Fahnen und Sprechchören.

Die Gruppe verwehrt niemandem den Einlass, aber sie ist laut, aufgebracht und deutlich: „Russische Kultur ist auch eine Waffe!“ wiederholen sie immer wieder. „Russische Kultur! Ist auch eine Waffe!“ Russland, so ergänzen die Plakate, sei Aggressor, nicht Opfer.

Demo vor Thalia-Premiere – doch Serebrennikov ist Dissident

Aber es ist vertrackter. Während manche Besucher überlegen, ob der Protest womöglich zum Stück gehört (tut er nicht), drehen sich die Foyer-Gespräche vor der Vorstellung um das offensichtliche Paradox: Die Anklage richtet sich gegen einen zwar russischen Oper-, Film- und Theatermacher, der allerdings schon vor Kriegsbeginn zu einer der prominentesten Figuren des kulturellen Widerstands gegen den Kreml wurde.

Der Dissident Kirill Serebrennikov, der sein Land mittlerweile verlassen hat, war nach einem Moskauer Gerichtsurteil, das allgemein als politisch motiviert verstanden wurde, zu jahrelangem Hausarrest verurteilt worden. Seine Regiearbeiten an westeuropäischen Theatern und Opernhäusern entstanden – bis auf die Thalia-Produktion „Der schwarze Mönch“, zu deren Endproben er im Januar überraschend nach Hamburg reisen durfte – sämtlich in Abwesenheit. Anders als der Dirigent Valery Gergiev oder die Sängerin Anna Netrebko galt Serebrennikov nie als Günstling des Putin-Regimes, im Gegenteil.

Serebrennikov hatte sich auch abseits der Bühne klar positioniert

Auch abseits der Bühne hatte sich der angeprangerte Regisseur klar positioniert: Kultur sei in Russland sogar immer „gegen den Staat“, schrieb Serebrennikov im Frühsommer unter dem Titel „Die Bomben des Hasses sprengen mein Land in Stücke“ in einem Gastbeitrag für den „Spiegel“. Es sei „unmöglich, mit Sadisten und Mördern zu sympathisieren“, Kultur in Russland sei „immer oppositionell und trotzig“.

Er schrieb, und so darf man wohl auch seine neue Hamburger Inszenierung „Der Wij“ verstehen, die er nun sehr frei nach einer Erzählung von Nikolai Gogol und – auch dies natürlich ein politisches Signal – gemeinsam mit dem jungen ukrainischen Dramatiker Bohdan Pankrukhin und einem internationalen Ensemble realisiert, gar vom „aufrichtigen Theater“.

„Der Wij“ mit bedrückend starkem Lichtdesign

An diesem Abend beginnt das aufrichtige Theater vor allem drastisch realistisch. Man sieht: nichts. Hört schweres Atmen im bedrohlichen Dunklen, spürt unter dem Keuchen die Angst derer, die dort agieren. Wie viele sind es, auf wessen Seite stehen und wie weit gehen sie? Nur ein paar Taschenlampen, später noch eine kleine Funzel, die alle Spieler durch einen Fahrraddynamo selbst zum Flackern bringen müssen (bedrückend starkes Lichtdesign: Sergey Kucher), erhellen punktuell den naturalistischen Raum, der wie die Menschen darin nicht mehr ist, was er vor dem Krieg war.

Ein dreckiges Loch, eine ausgebombte, verbarrikadierte, düstere Turnhalle, in der eine Gruppe von Männern (Johannes Hegemann, Oleksandr Yatsenko, Pascal Houdus) einen gefesselten Soldaten malträtiert, der nur noch ein Bündel Mensch ist (Filipp Avdeev). Detailliert tauschen die Geiselnehmer sich über Gewaltfantasien und Rache aus. Sollen sie ihn mit Benzin übergießen, brutal vergewaltigen, hängen? „Ich will, dass er langsam stirbt“, stößt einer hasserfüllt aus, der Großvater (Falk Rockstroh) aber fordert stattdessen das Erscheinen seiner Enkelin. Ihr solle der Gefangene vorlesen. Doch das Mädchen liegt im Sarg, es ist tot.

Hier nähert sich die schwer erträgliche, weil so ungebrochene Gegenwartsbetrachtung Serebrennikovs der titelgebenden fantastischen Geschichte Gogols, in der ein Student die Totenwache bei einem Mädchen (Rosa Thormeyer spielt es als Lebendigste unter den innerlich Abgestorbenen) hält, das immer grausamere Dämonen beschwört, bis schließlich der Schrecklichste von allen, der schlammverkrustete Unterwelt-Geist Wij, auftaucht. Wer ihm die schweren Lider hebt, stirbt.

„Der Wij“: Inszenierung, die erschüttert und erschöpft

Das Augenöffnen macht sich Serebrennikov in seinem mehrsprachigen Abend zum Antrieb. Es wird bei ihm nicht zum Todesurteil, sondern zur Anregung: „Was passiert, wenn wir uns gegenseitig anschauen? Was ist, wenn wir nicht wegschauen?“

Den Wij gibt Bernd Grawert als Endzeit-Comedian, seine Folter ist ein rabiat unlustiger Stand-up-Akt („Wij geil ist das denn?!“), die Schonungslosigkeit driftet mit ihm vollends ins Absurde, sogar Alberne, wodurch eine irritierende Distanz zum Geschehen entsteht. Der intensive, aber immer weitschweifigere Abend müht sich sichtlich, die Barbarei und Entmenschlichung des gleichzeitig wenige Hundert Kilometer weiter östlich noch immer stattfindenden Krieges irgendwie zu fassen und muss an dieser Aufgabe wenn nicht scheitern, so doch womöglich verzweifeln.

Zahlreiche Berichte und Videos über die Gräueltaten der angeblichen „Befreier“ haben Pankrukhin und Serebrennikov sich angetan, einige finden ihren Weg als entsetzliche Diashow in eine Inszenierung, die erschüttert und erschöpft.

Serebrennikov: Applaus bleibt bei Thalia-Premiere aus

Noch bevor der Beifall einsetzen kann, gibt es eine Durchsage: „Wir bitten darum, aus Respekt vor allen Menschen, die unter diesem Krieg leiden, auf Applaus zu verzichten.“ Das Ensemble verbeugt sich nicht. Es ist erstaunlich, wie leer und hilflos einen der ausbleibende Applaus zurücklässt.

Das Publikum verlässt den Theatersaal schweigend, eine Erlösung bietet dieser Abend, der sich Kategorien wie „gelungen“ oder „missglückt“ entzieht, nicht an. Er ist jedoch in seinem Selbstverständnis, seiner Widersprüchlichkeit und Aussichtslosigkeit absolut konsequent: „Der Krieg entmenschlicht schnell“, hatte Serebrennikov im Sommer geschrieben, „und keine Kultur kann die schlimmsten Verbrechen verhindern.“

„Der Wij“, Thalia in der Gaußstraße, wieder am 6., 23., 28.12. (ausverkauft) sowie am 11., 12. und 31.1., jew. 20 Uhr, Karten zu 31/17 Euro unter T. 328 14-444 und www.thalia-theater.de