Hamburg. Dreieinhalb Stunden „Wolf unter Wölfen“: Luk Perceval eröffnet mit düsterem Inflationstheater und dennoch unterhaltsam die Lessingtage.
So sieht sie also aus, die Hyperinflation: enorme weiße Blasen, aufgepumpt bis zum Anschlag. Sie machen sich breit, sie verdrängen alles andere, als Erstes den Menschen, der sich zwangsläufig um sie herum organisieren muss. Bühnenbildnerin Annette Kurz hat eine so schlichte wie wirkungsvolle Szenerie ersonnen, um den Druck der Weimarer Republik in Hans Falladas Epochenroman „Wolf unter Wölfen“ am Thalia Theater zu veranschaulichen.
10.000 Schritte pro Tag soll man heutzutage gehen, dann ist die Selbstoptimierungs-App zufrieden. Der Schauspieler Sebastian Zimmler dürfte das als zentrale Figur in Luk Percevals Adaption des Fallada‘schen 1200-Seiten-Epos locker überschreiten. Ein Getriebener ist dieser von Zimmler fast dreieinhalb Stunden mit vollem Körpereinsatz gespielte Wolfgang Pagel. Mit seiner Mutter hat sich Pagel überworfen, seine Freundin ist schwanger, Geld hat er keines. Er rennt und rennt und rennt durch das hektische Nachkriegs-Berlin, das in Wahrheit bloß ein Zwischenkriegs-Berlin ist. Die Live-Musik von Philipp Haagen und Rainer Süßmilch, insbesondere die kratzende, kreischende Jazz-Trompete, verstärkt die allgemeine Überreiztheit.
Fallada-Premiere am Thalia: „Der Sinn liegt nicht darin, das zu tun, was man will, sondern das, was man muss.“
Unermüdlich umrundet Zimmler als Pagel die Ballons, während sich die Drehbühne zugleich beharrlich in die Gegenrichtung bewegt, und plappert über den „unzerstörbaren Willen“. Eines hat dieser mittellose Mann, Fahnenjunker a. D., gezwungenermaßen verstanden: „Der Sinn liegt nicht darin, das zu tun, was man will, sondern das, was man muss.“
Nur glaubt Pagel dummerweise, dass es sich dabei in seinem Fall um das Roulettespiel handelt. Eine der Blasen wird zur halsbrecherisch kreisenden Glücksspiel-Kugel, der Zimmler ordentlich Schwung gibt, die er zunächst im Griff hat, die immer auf der richtigen Farbe landet. Bis sie es irgendwann nicht mehr tut. Toll, wie dem Spielball hier eine neue Aufgabe zufällt und wie damit auch die Bühne die Voraussetzung für eine spielerische Leichtigkeit liefert, bevor sich die Kunststoffkugel schließlich als großer runder Vollmond über das Geschehen erhebt.
Fallada am Thalia: Nicht nur ein Gänserich muss symbolträchtig Federn lassen
Der Mond, den irgendwann die titelgebenden menschlichen Wölfe getroffen anheulen können, leuchtet so poetisch wie bedrohlich auch über dem zweiten Handlungsort, dem Landgut Neulohe. Hierhin folgen Pagel und ein zurückhaltender Herr namens Etzel von Studmann, der sich trotz adliger Herkunft als Hotelpage verdingt hat, einem gemeinsamen Weltkriegskameraden: Rittmeister Achim von Prackwitz, Pächter seines Schwiegervaters. Auch auf Neulohe (viel Roggen, zu wenig Arbeitskräfte) hat die Inflation jedoch längst zugeschlagen und paart sich mit der Bösartigkeit des Landbesitzers. Gnadenlos übervorteilt und drangsaliert er seine eigene Tochter und den Schwiegersohn. Wo das Geld derart rasant an Wert verliert, kommen andere Werte gleich mit unter die Räder. Und nicht nur ein Gänserich muss hier symbolträchtig Federn lassen.
Tim Porath krakeelt den boshaften Grantel-Alten nah an der Karikatur und sorgt damit (wie auch als noch greller überzeichneter Leutnant Fritz, der die erst 15 Jahre junge Tochter des Hauses verführt) für den comic relief im schwarz-weißen Elend der allgemeinen Perspektivlosigkeit und Überspanntheit.
Fallada am Thalia: „Der Schwächere hat immer Unrecht“
„Der Schwächere hat immer Unrecht“, heißt es an einer Stelle. Oda Thormeyer, die den Zahlenmenschen Etzel von Studmann mit grandios fatalistischer Trockenheit spielt (nur in der Schwärmerei für die Pächterin funkelt einmal zaghaft eine umgehend enttäuschte Hoffnung auf ein kleines Glück), spricht den Satz fast beiläufig. Doch beschreibt die Beobachtung einen Kern des verzweigten Figurenpanoramas. Die Schwächeren sind sie hier alle.
Da gibt es die offensiv dysfunktionale Pächterfamilie von Prackwitz, die nicht nur kein Händchen für die Landwirtschaft hat, sondern der auch das lebenslustige Töchterlein (eine echte Entdeckung: die quirlig-zierliche Anna Maria Köllner als aufmüpfige Violet) zunehmend entgleitet. Tilo Werner steigert sich als an zahlreichen Fronten überforderter Rittmeister bis zur Stromberg-Wurstigkeit. Ein Haufen Zuchthäusler wird als Erntehelfer engagiert, die Entflohenen tummeln sich ebenso im gespenstisch vernebelten Pachtwald aus kahlen Bambusstangen wie ein Förster-Faktotum (Michael Wolff) und ein paar versprengte Militärs, die dort Waffen verbuddeln und einen Regierungsputsch planen. Aber jeder marschiert für sich allein.
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Sebastian Zimmler verausgabt sich hier nicht nur als Hauptcharakter, sondern übernimmt souverän auch den Erzählerpart. Er hält damit brillant zusammen, was in der Dauererregung leicht unübersichtlich werden könnte, wiewohl Luk Perceval das Fallada-Personal kräftig eindampft. Die offensichtlichen Gegenwartsbezüge – Inflation, Umsturzfantasien, gefährliche Minderwertigkeitskomplexe, Empathielosigkeit – laufen eher subkutan mit, zelebriert werden die genau gearbeiteten Eigenwilligkeiten der verschiedenen Figuren.
Das ist übrigens auch handwerklich eindrucksvoll, wenn Perceval für seine Adaption (zugleich die Eröffnung der Thalia-Lessingtage) parallele Dialoge gekonnt verschneidet und sich Geräusche, Rhythmen, Musik, Nebel, Choreografie (Ted Stoffers) und ein sehr präzise gesetztes Licht (Mark Van Denesse) kunstvoll zunutze macht. „Man denkt, es passiert nichts, aber es passiert immer etwas“, stellt der Förster fest. Das gilt auch für diesen so düsteren, trotzdem unterhaltsamen, spielfreudigen und ausgesprochen ästhetischen Abend. Wie harmlos und lächerlich das Böse manchmal daherkommt, erzählt sich so fast von allein. Unterschätzen sollte man es nicht.
„Wolf unter Wölfen“, Thalia Theater, wieder am 29. und 30.1., jew 19 Uhr, 9.2., 19.30 Uhr, und 10.2., 15 Uhr. Karten unterwww.thalia-theater.de