Avignon. Kirill Serebrennikovs Inszenierung „Der schwarze Mönch“ eröffnete das Festival in Frankreich. Warum das Projekt fast gescheitert wäre.
Der Asphalt glüht. Die Luft flirrt schon am späten Vormittag vor Hitze. Dennoch fallen in das beschauliche mittelalterliche Avignon im Süden Frankreichs für rund drei Wochen derzeit wieder tausende Theaterliebhaber aus aller Welt ein. Unzählige Plakate des „Off“-Programms klammern sich an die Laternenmasten.
Die ganze Stadt ist eine einzige Bühne. In der Fußgängerzone werben vier als Kardinäle verkleidete Darsteller für ihre komödiantische „+ Story“. Eine junge Frau trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Für Molière bringe ich meine Mutter um.“ Nirgends verbinden sich Avantgarde und Komödien-Musical, Kunstbegegnung und Rosé-Leichtigkeit so schön wie hier.
Theaterfestival von „Der schwarze Mönch“ eröffnet
Das „In“-Programm des größten Theaterfestivals der Welt hat in diesem Jahr ein wahrer Knaller eröffnet: Kirill Serebrennikovs Inszenierung „Der schwarze Mönch“ nach der gleichnamigen Erzählung von Anton Tschechow. Viele Hamburger kennen sie bereits, zählte die Uraufführung doch zu den Höhepunkten der gerade zu Ende gegangenen Saison am Thalia Theater. Die jetzt in Avignon gespielte Aufführung wird als Aufzeichnung am 9. Juli ab 22.40 Uhr auf Arte zu sehen sein, Anfang Oktober steht „Der schwarze Mönch“ dann wieder auf dem Thalia-Spielplan.
Dass sie als bislang größtes Thalia-Gastspiel der Geschichte das Festival eröffnet, ist gleich aus mehreren Gründen bemerkenswert. Dabei ist „Der schwarze Mönch“ bereits das vierte Thalia-Gastspiel beim Festival d’Avignon nach Nicolas Stemanns „Die Kontrakte des Kaufmanns 2012, „Faust I+II“ 2013 wiederum von Stemann und Antú Romero Nunes’ „Don Giovanni“ 2014.
Kirill Serebrennikov wirkte angespannt
Am Avignon-Premierenabend tobt Mirco Kreibich als Wissenschaftler Andrej Kowrin vor 2000 Zuschauerinnen und Zuschauern über die breite Freilicht-Bühne im Innenhof des Papstpalastes. Der südfranzösische Mistral-Wind bläst schon zu Anfang die mit Plastikplanen überzogenen Gewächshäuser des Bühnenbildes beinahe weg. Der von hohen Mauern eingerahmte Innenhof ist berüchtigt dafür, dass er sich schwer bespielen lässt. „Die Bühne akzeptiert dich oder sie akzeptiert dich nicht“, hatte Kirill Serebrennikov Stunden zuvor auf einer Pressekonferenz gesagt.
Der mittlerweile in Berlin lebende russische Regisseur und lange Jahre vom Kreml drangsalierte Dissident wirkt angespannt, aber er wird hier freundlich empfangen. Erstmals eine Inszenierung eines russischen Regisseurs von einem russischen Autor zur Eröffnung, ob das denn angesichts des Ukrainekriegs in Ordnung sei, wird Festivalchef Olivier Py gefragt. Er habe Kirill eingeladen, weil er ein herausragender Künstler sei, antwortet dieser.
Bühne sparsam und ökonomisch gehalten
In nur zwei Probenwochen hat Serebrennikov die aus mehreren Perspektiven erzählte Geschichte des dem Wahn anheim fallenden Wissenschaftlers Andrej Kowrin für die Papstpalast-Bühne adaptiert. Die aus Hamburg bekannten Video-Monde ließen sich wegen des Mistral-Windes nicht aufhängen. Die bewegten Bilder flimmern nun über vier am Boden befestigte runde Holzpodeste. Das Ensemble der Tänzer und Sänger wurde fast verdoppelt.
Die Bühne, sagt Serebrennikov, sei so sparsam und ökonomisch wie möglich gehalten, um den mit Mikrofonen verstärkten Schauspielerinnen und Schauspielern den größtmöglichen Raum zu geben. Für ihn, so Serebrennikov, seien die Schauspielerinnen und Schauspieler die Könige der Bühne. Einige von ihnen – und auch 15 mitreisende russische Techniker – haben vor wenigen Tagen erst erfahren, dass ihr Theater, das bis 2020 von Serebrennikov geleitete Gogol-Center, umbenannt und die bisherige Leitung gegen eine Kreml-freundliche ausgetauscht wurde.
Projekt wäre fast gescheitert
Angesichts dessen wirkt auch das Anliegen des „Schwarzen Mönchs“, wirken Themen wie Freiheit, Humanität, Sinnenfreude und Kunstverehrung unter der südfranzösischen Sonne gleich noch ein wenig größer. „Es ist wichtig, dass das Theater in dieser Situation weiterhin Menschen zum Nachdenken bringt“, sagt Serebrennikov.
Die Bedingungen dieser zwischen Hamburg und Moskau aufgespannten Produktion haben sich ständig verändert und verändern sich noch, so Thalia-Intendant Joachim Lux. Beinahe wäre das Projekt gescheitert: Die Künstlerinnen und Künstler mussten von Moskau über Istanbul nach Deutschland oder Frankreich für ein Vielfaches des ursprünglichen Flugpreises eingeflogen werden. Hinzu kamen Visa-Probleme der russischen Ensemble-Mitglieder.
Joachim Lux genießt Theaterleidenschaft in Avignon
Vor Ort wird das Gastspiel zu 80 Prozent von Kollegen des Gogol-Centers betreut, ergänzt um einige französische Techniker und eine Rumpfbesetzung des Thalia Theaters. Einige der russischen Künstlerinnen und Künstler haben bereits einjährige Aufenthaltserlaubnisse in Deutschland erhalten. Andere versuchen, die Nachricht vom Verlust ihres Gogol-Centers erst einmal zu verdauen. Nach den Proben hatte sich das Ensemble regelmäßig auf einem Platz an einem Brunnen getroffen und sich Mut für eine ungewisse Zukunft angesungen.
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Joachim Lux und Tom Till, kaufmännischer Geschäftsführer des Thalia Theaters, genießen nach all den Hindernissen spürbar die wärmende Theaterleidenschaft in Avignon. Die verbleibenden drei Jahre seiner Intendanz will Lux die mit der Produktion verbundenen Künstlerinnen und Künstler in vielfältige Arbeitskontexte bringen. „Das betrachte ich fast als Zentralaufgabe in einer solchen Situation humanitär und künstlerisch.“ Was Kirill Serebrennikov angeht: Er wird in der kommenden Spielzeit als Artist in Residence mehrere Produktionen am Thalia Theater erarbeiten.
Theaterfestival: Thalia-Stück bei Premiere gefeiert
Am Premierenabend nimmt der Mistral zu im Innenhof des Papstpalastes als Kowrins Bewusstsein zunehmend schwindet, der Abend sich zur euphorischen Musik-Tanz-Performance wandelt und ein funkelndes Planetarium als Projektion über die rückwärtige Mauer flimmert. Es ist fast ein Uhr morgens, als es Beifall und Bravos regnet und auf der Bühne der Schriftzug „Stop War“ auf rotem Untergrund mit den Logos des Thalia Theaters und des Gogol-Centers erscheint.
Da bekommt dieses Thalia-Gastspiel in Avignon noch einmal ganz besondere Symbolkraft. Zeigt es doch eine internationale Theatergemeinde, die sich im Geist der Kunst und des Friedens versammelt.
„Der schwarze Mönch“ auf Arte Sa 9.7., 22.40 Uhr
„Der schwarze Mönch“ im Thalia Theater: 3.10., 19 Uhr, 4.10., 20 Uhr, Karten unter www.thalia-theater.de