Hamburg. Ein Gespräch mit Regisseur Kirill Serebrennikov über sein Musik-Theater-Manifest „Barocco“ – und Russland.
Die Zutatenliste ist schon mal speziell: Weder klassische Oper noch reines Theaterstück soll es werden; Schauspieler, die trotzdem Opernarien singen; eine Sopranistin, die hier erstmals spricht. Arientexte, die gesprochen werden. Tanz und Film, dazu ein kleines Streicher-Ensemble und eine weitere Band unter Strom. Und Chor. Das alles in eine eigene Geschichte verpackt, die auch sehr politisch und heutig sein soll und vertont – so verspricht es jedenfalls der Regisseur – mit dem Schönsten vom Schönen aus jener Verdammt-lang-her-Epoche nach der Renaissance, die unter dem Oberbegriff „Barock“ zusammengefasst wird.
Mit einem Satz: Kirill Serebrennikov, berühmter Kultur-Exilant aus Moskau, ist wieder in der Stadt, zurück am Thalia. „Barocco“ soll, so berichtet der 53-Jährige im Thalia-Foyer direkt nach einer Probe, ein „musikalisches Manifest“ werden und eine „Pasticcio-Show“, „ein etwas seltsames Genre“. Also, diesem sehr musikhistorischen Vorbild folgend, etliche Opernarien, von hier, da und dort formschön zusammengewürfelt, als Plot-Kitt und tönender Schauwert einer Inszenierung, die alles Mögliche sein könnte. Oder aber auch nicht. Sich bei der großartigen Musik bedienen? Aber gern doch. Und ebenso gern die ach so albernen Opernhandlungen entsorgen.
Kirill Serebrennikov: Premiere am Thalia Theater
Das Etikett „Neu“ lehnt Serebrennikov für diese Melange entschieden ab, „das sollte für zeitgenössische Kunst überhaupt nicht verwendet werden“. Alles sei doch schon mal da gewesen. Hier tatsächlich neu sei allerdings, dass diese hinreißende Musik zum Schauspiel-Ensemble gebracht werde, das sie adoptiert und damit etwas komplett Neues ausdrückt. „In der Oper geht es um die Schönheit der Musik – hier eindeutig nicht.“
Eine erste Version dieses interessanten Durcheinanders hatte Serebrennikov für sein (damals noch nicht von Putins Staatsmacht geschlossenes) Gogol Center in Moskau konzipiert. Einiges davon wird im Thalia bei der Wiederaufnahme der vielen Fäden wieder dabei sein, es gibt aber auch neu geschriebene Szenen und neu ausgewählte Arien. Damals wie heute brauchte es einiges an Vorarbeiten, um die Schauspielerinnen und Schauspieler angemessen opernariengesangsfit zu bekommen.
„Profis sind sie alle nicht, aber sehr gute Schauspielerinnen und Schauspieler“, betont Serebrennikov. Was partout nicht passen wollte, wurde dafür passender arrangiert, „einfacher wollten wir die Musik nicht machen. Das alles zusammen ergibt eine interessante musikalische Qualität. In unserem Manifest geht es auch um politische Themen, Menschenrechte, Kunstfreiheit, um das Recht auf individuelle Persönlichkeit.“ Selig werden können dürfen, und das unbehelligt, darum geht es dann wohl auch. Sehr.
Thalia Theater: Selbstverbrennung als letztes Protestmittel gegen Missstände
Erzählt werde von einem Journalisten, der wegen Depressionen nicht über einen Krieg schreiben könne. „Er geht in den Club und dann passiert etwas mit ihm ...“, orakelt Serebrennikov, die Geschichte trage den Namen „Spiele mit dem Feuer“. Selbstverbrennung als letztes Protestmittel gegen Missstände finde in dieser Erzählung einen wichtigen Platz.
Opernstammgäste wissen: Neben vielen mühelos entbehrlichen Barockopern gibt es immer noch reichlich wirklich tolle Solitäre. Warum also nicht einfach einen von denen nehmen und ihn im Stück als Stück auf eine Opernbühne stellen? „Alle Musikstücke, die wir ausgesucht haben, sind Meisterwerke“, entgegnet der Regisseur, „eine Collage der Besten“. Barock-Opern sind in aller Regel reichlich lang, sie erzählen Geschichten, die entweder sehr blutig oder sehr dämlich sind (oder beides). Das heutige Publikum bräuchte schon gewisse Fähigkeiten, um sich so etwas vier Stunden lang auszusetzen.
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„Erkennen Sie die Melodie?“ will Serebrennikov mit seinem Publikum aber nicht spielen, die Setlist soll im Programmheft stehen, niemand muss raten müssen, ob er gerade Händel hört, Rameau oder Purcells „Cold Song“, ob Telemann oder Vivaldi. Man könnte auch glauben, dass das barockoperntypische Verwirrspiel mit Geschlechterrollen und Stimmfächern – Männer singen oder spielen Frauen oder auch mal umgekehrt – ihn stark gereizt hätte, aber: „Jein. Wir haben keine Gender Games hier. Das wäre einfach zu viel.“
„Barocco“: Eine wilde Opernmischung auf diverse europäische Bühnen gestellt
In den vergangenen Jahren hat Serebrennikov eine wilde Opernmischung, von Rossinis „Barbier“ über Mozarts „Così“ bis Wagners „Parsifal“ auf diverse europäische Bühnen gestellt; in Hamburg war es 2019 ein „Nabucco“, per Video ferninszeniert aus dem Moskauer Hausarrest, mit dem berühmten „Gefangenenchor“ als bittere Ironie dieser Geschichte, in der Kunst und Realwillkür sich begegneten. Eine Barockoper war nie dabei. „Dabei war das ein Traum von mir, ich wollte das so sehr“, berichtet Serebrennikov.
Ein Mitarbeiter, der alles und jeden in der Barockmusik bestens kennt, habe ihm diese Stil-Epoche als Soundtrack für seine Bühnen-Ideen vorgeschlagen. So kam einer zum anderen. Nadeshda Pavlova – Sopranistin, 2021 in der Salzburger „Don Giovanni“-Inszenierung von Teodor Currentzis und Romeo Castellucci spektakulär gefeiert – kam schon sehr früh ins Gesamtbild. Serebrennikov hatte bereits 2018 in der Moskauer „Barocco“-Version mitgewirkt. „Ihre Stimme ist unglaublich stark“, schwärmt Serebrennikov.
Serebrennikov sieht sich als russischen Europäer
Aber zurück zur finsteren Tagesweltlage jenseits der Hamburger Probenpläne: Das Gogol ist geschlossen, „die Regierung hat das Theater zerstört.“ Und Moskau? „Ich lebe dort nicht, ich kann nicht zurück. Es gibt nur noch eine Verbindung dorthin, über Zoom, mit meinem 90 Jahre alten Vater, der in Südrussland lebt. Ich bin ein russischer Europäer“, beschreibt Serebrennikov seinen Aggregatszustand, „ein Künstler, der Russisch spricht. Wenn man seit seiner Kindheit in Russland lebte, gehört man zu diesem Land und liebte es. Aber traurigerweise existiert dieses Land heute nicht mehr.“
Netrebko, Gergiev, Currentzis sind weitere Muss-Stichworte, auf die Serebrennikov eindeutig undeutlich bleibt. „Es ist alles sehr kompliziert, jeder Fall ist anders. Mein Freund Teodor hat sicher eine Haltung zu dem, was passiert. Er ist ein großer Künstler. Im gleichen Moment kann er wegen der Umstände wohl nicht offen sprechen, weil er für viele Menschen eine große Verantwortung trägt. Ich will über niemanden urteilen.“
„Barocco“-Premiere am Thalia: 25.5., 20 Uhr, weitere Vorstellungen: 26.5./28.5. und 29.5. (19 Uhr) / 30.5., 25.6. (15 Uhr) / 26.6. und 27.6. Infos: www.thalia-theater.de