Hamburg. Der Hamburger Pop-Pionier Achim Reichel wird 80 und spricht über Höhe- und Tiefpunkte seiner Karriere – vor seiner Abschiedstour.

Im Jahr 1960, als die noch unbekannten Beatles auf dem Kiez im Indra ihre ersten Konzerte spielten, gründete auch ein auf St. Pauli aufgewachsener Teenager mit seinen Freunden eine Band: The Rattles mit Sänger Achim Reichel wurden als Entdeckung im Star-Club zur Hamburger Antwort auf die Fab Four, mit denen sie 1966 auf „Bravo-Beatles-Blitztournee“ gingen.

Nach seinem Ausstieg gründete Reichel die Band Wonderland und startete eine erfolgreiche Solokarriere. Jetzt wird der in Hummelsbüttel lebende Pop-Pionier 80 Jahre alt und geht (mal wieder) auf „Schön war es doch“-Abschiedstour. Aber vielleicht warten noch weitere glückliche Zufälle auf Reichel, der im Gespräch ausgiebig und unter vielem Lachen zurückschaut auf skeptische Plattenbosse, seinen größten Reinfall und Tik-Tok-Überraschungen.

Hamburger Abendblatt: Die „Schön war es doch!“-Konzertreise, die Sie am 14. März auch in die ausverkaufte Elbphilharmonie führt, wird als Abschiedstour beworben. Dabei werden Sie am 28. Januar doch erst 80 …

Achim Reichel: Tja, die Zahl 80 macht einen schon ein wenig nachdenklich, da muss man sich klar werden, ob man stolz sein möchte oder ängstlich. Aber ich denke, ich kann stolz sein, was ich auf die Reihe gekriegt habe. Übrigens war schon die Tour 2019, wo das jetzt erscheinende Livealbum teilweise aufgenommen wurde, meine Abschiedstour. Aber die Leute kamen zum Fanartikelstand und wollten das Programm auf Platte haben. Corona hat das etwas ausgebremst, aber die 2023er-Tournee haben wir auch mitgeschnitten, und dieses Jahr können die Leute in der Elbphilharmonie endlich das Album kaufen.

„Schön war es doch“, ein Lied von Hildegard Knef, fasst Ihre lange Karriere ja gut zusammen: Rattles und Wonderland, A.R. & Machines, Folk und Shantys, norddeutsche Lyrik und Blues. Verglichen mit den Rolling Stones, mit denen Sie 1963 als Sänger der Rattles tourten, sind Sie ein wenig vielseitiger gewesen als Mick und Co. Waren Sie immer auf der Suche nach neuen oder neuen alten Tönen?

Reichel: Nach den Rattles und Wonderland wurde ich langsam erwachsen und dachte mir: „Was machst du hier eigentlich? Pure Unterhaltung, Party, Stimmung? Oder gibt es da noch mehr?“ Gerade durch unsere England-Touren und die Begegnungen mit den Stones und den Beatles wurde mir klar: Das Englische war nicht unsere Sprache, wir taten nur so, als ob. Wir wollten echt sein, aber echt waren leider die anderen. Heute würde man das, um es besonders provokant auszudrücken, vielleicht kulturelle Aneignung nennen.

Von 1960 bis 1966 stieg Achim Reichel mit den Rattles zu Deutschlands populärster Beatband auf. Nach seinem Wehrdienst gründete er 1968 die Band Wonderland.
Von 1960 bis 1966 stieg Achim Reichel mit den Rattles zu Deutschlands populärster Beatband auf. Nach seinem Wehrdienst gründete er 1968 die Band Wonderland. © picture alliance/United Archives | Siegfried Pilz

Achim Reichel: „Ist der jetzt ausgehakt in der Birne?“

Nahezu zeitgleich mit Kraftwerk begannen Sie unter dem Pseudonym A.R. & Machines, die ersten Möglichkeiten elektronischer Musik zu erforschen. „Dat Shanty Alb’m“ hingegen bildet die damalige Lust auf modernisierte Folklore ab, Stichwort Hamburg 75. Beides sehr ungewöhnliche, aber völlig unterschiedliche Projekte.

Reichel: Bei A.R. & Machines dachten die Leute damals sicher: „Ist der jetzt ausgehakt in der Birne? Was soll das denn?“, erst Jahrzehnte später bekam ich Komplimente dafür, aber das aus der ganzen Welt, sogar von Brian Eno. Dass das damals absolut nicht verkaufbar war, war mir relativ egal: „Herr Reichel, das ist ja gar nicht diskotheken- und radiotauglich.“ Ich fand es trotzdem absolut geil, das hat es so noch nie gegeben. Auch die hierzulande noch unübliche Mischung aus Shantys und Folkrock wollte erst keiner haben, die Teldec hat sich dann getraut und es nicht bereut.

Und das war 35 Jahre vor Santiano.

Reichel: Pete Sage war zwölf Jahre Geiger bei mir, bevor er Santiano mitgründete.

Wie kam es eigentlich, dass ausgerechnet Happy-Sound-Experte James Last den Psychedelic-Pop von Wonderland produzierte?

Reichel: Ich kam zu der Zeit von der Bundeswehr zurück und stand vor der Frage, was ich machen sollte. Gehst du zurück zu den Rattles und schmeißt deinen Nachfolger raus? Das hielt ich für keine gute Idee. Und damals war das Stichwort „Supergroup“ dank Bands wie Cream geradezu magisch. Also haben wir die geilsten Musiker, die in Hamburg herumliefen, von Les Humphries bis Frank Dostal, zusammengetrommelt und den „Moscow“-Song geschrieben. Die Plattenfirma fand den auch wieder blöd, der war ja in Moll, viel zu nachdenklich. Aber wenn James Last den produzieren würde, könnte man darüber nachdenken. Wir dachten: „Oh, oh, kann der so was?“ Aber der Mann war bekanntlich … äußerst kompetent.

Achim Reichel 1965 mit 21 Jahren.
Achim Reichel 1965 mit 21 Jahren. © Hinrich Franck | Hinrich Franck

Das kann man wohl sagen. Und „Moscow“ wurde ein großer Hit.

Reichel: Ja, aber leider stimmte die Chemie in der Band überhaupt nicht, das Miteinander war sehr grenzwertig. Zu viele sehr große Egos. Wie bei Cream.

Achim Reichel: „Manchmal muss einen die Zeit erst einholen.“

Sie machen seit 1960 Musik. Kann man da überhaupt noch einzelne Momente nennen, die besonders prägend oder entscheidend waren?

Reichel: Sagen wir mal so: Die psychedelische Krautrockzeit mit A.R. & Machines war sehr wichtig, obwohl es damals überhaupt nicht erfolgreich war. Was allerdings erfolgreich war, war das Konzert von A.R. & Machines 45 Jahre später in der Elbphilharmonie, was als Livealbum 2022 in den Charts landete. Ich dachte, ich spinne! Daran war damals überhaupt nicht zu denken. Manchmal muss einen die Zeit erst einholen.

Und gibt es Momente, in denen Sie falsch abgebogen sind, die Sie lieber vergessen würden, die Übernahme und Schließung des Star-Clubs 1969 zum Beispiel?

Reichel: Ach, der Star-Club war ein idealistisches Ding. Schließlich haben da Weltstars gespielt, Ray Charles, Beatles, Jimi Hendrix …

… The Rattles …

Reichel: … und wir haben da gespielt und sind direkt auf England-Tournee gegangen. Das hat uns enorm viel gegeben. Klar, manche Entscheidungen waren wirklich etwas naiv, zum Beispiel die Idee von Frank Dostal und mir, ein eigenes Label im Vertrieb einer großen Plattenfirma zu gründen. Wir wollten Stück für Stück alle Verdienstquellen für uns vereinnahmen. Aber um unser eigener Herr werden zu dürfen, war die Vorgabe, dass unter den ersten Veröffentlichungen eine Achim-Reichel-Platte sein sollte. Ok, kein Problem. Tja, und da hab’ ich ein Album hingehauen, was ich später wieder vom Markt genommen habe, weil es wirklich kalter Kaffee war. Ein eigenes Label zu bekommen, war zu verführerisch, ich hätte lieber eine gute Platte machen sollen. Tja, wie soll ich es sagen … man lernt eben nie aus.

Ich tippe auf „Heiße Scheibe“, 1979?

Reichel: Ja. Der Schriftzug des Titels sah aus wie direkt aus der Tube gedrückt und war schwer lesbar. Ich hatte ein Interview beim RIAS in Berlin, und der Moderator kündigte an: „Heute haben wir Achim Reichel hier mit seiner neuen Scheibe: Äääh, Heiße Scheiße‘.“

Mehr zum Thema

Autsch!

Reichel: Aber in der Zeit kam auch das Album „Regenballade“ heraus, das hat mich wirklich angeturnt mit den vertonten Dichtern und Denkern, Sturm und Drang. Da habe ich erst gelernt, was für Wortmagier wir haben mit Goethe, Fontane, Ernst oder Holz. Sehr beeindruckend. Da musste ich 2002 mit „Wilder Wassermann“ noch mal hin.

Achim Reichel: „Hamburg ist meine Stadt. Die hat mich geprägt.“

Welche Rolle spielt Hamburg in Ihrer Karriere?

Reichel: Hamburg ist meine Stadt. Die hat mich geprägt. Irgendwann war St. Pauli als Kinderstube doch etwas zu hart, aber die Star-Club-Zeit war schon unterhaltsam, wenn Huren und Barfrauen die Bands unter sich aufgeteilt haben, da waren wir gut verplant. Trotzdem wusste man: Immer schön aufgepasst, wenn du irgendwo aneckst, gibt’s ordentlich was auf die Nuss. Aber ich bin schon mit 17 Vater geworden und habe den Kiez dann hinter mir gelassen. Heute gucke ich in Hummelsbüttel auf das Alstertal. Aber vor ein paar Jahren war ich beim Reeperbahn-Festival, das war wirklich interessant, obwohl ich mir da Corona eingefangen habe.

Im reifen Alter sind Sie 2021 auch noch zum TikTok-Star in China geworden.

Reichel: Das ist ja nun völlig verrückt. Ich dachte, die wollten mich verscheißern, als RTL hier anrief und wissen wollte, warum in China plötzlich alle „Aloha heja he“ hörten. Ich bin ja öfter vom Zufall und vom Glück geküsst worden, das ist auch wieder so ein unerklärlicher Fall. Der erste deutschsprachige Erfolg in China. Tatsächlich überlege ich, ob ich ein Tourneeangebot aus China annehmen soll.

Achim Reichel in seinem Studio in Hamburg.
Achim Reichel in seinem Studio in Hamburg. © Mark Sandten / HA; | Ha

Haben Sie weitere unerfüllte Träume? Oder haben Sie „das Paradies gesehen“ und sind damit zufrieden?

Reichel: Ich habe nie eine Masche so lange geritten, bis mir das Pferd unter dem Arsch zusammengebrochen ist. Mal hier eine Idee, mal da eine. Das habe ich immer durchgezogen und dabei das Glück gehabt, dass es immer ein Publikum gab, das sich dafür interessierte. Das ist doch paradiesisch! Natürlich gab es auch dunkle Momente in meinem Leben, ganz klar. Am Ende ist man ja doch ein Normalsterblicher.

Achim Reichel: „Schön war es doch – Das Abschiedskonzert“ Album (BMG) ab 26.1. im Handel; Konzert: Do 14.3., Elbphilharmonie (ausverkauft); www.achimreichel.de