Hamburg. Mick Jagger und Co. legen ihr erstes Album nach langer Zeit vor. Peinlich ist ihnen nichts, vielleicht ist das sogar gut so.

Immer die Sache mit dem Alter, das ist doch eine olle Kamelle. Muss man das immer ansprechen? Man muss. Aus mehreren Gründen. Weil Pop vom Grundding her mal ein Vorrecht der Jungen war. Wobei wahrscheinlich die Rolling Stones als riesige Cash Cow der Musikbranche natürlich das gleichzeitig existierende Gegenbeispiel sind: Die Typen sind uralt, es gibt sie als Band seit mehr als 60 Jahren. Und gerade deswegen ist es ein Ereignis, wenn ein neues Album der Rolling Stones erscheint. Nennt man Leute wie Mick Jagger, Keith Richards und Ronnie Wood nicht lebende Legenden? „Hackney Diamonds“ heißt dieses erste richtige Album mit selbst geschriebenen Songs nach fast zwei Jahrzehnten.

Aber das wissen Sie längst, liebe Leserinnen und Leser. Eine popkulturelle Erscheinung wie diese veröffentlicht nicht einfach ein neues Album. Sie kündigt es mit Prominenz an (mit TV-Mann Jimmy Fallon in London), sie dreht skandalöse Videos, und sie schickt PR-Busse durch die Städte. Und wissen Sie was? Akezptieren wir total, das Bohei. Es könnte schließlich das letzte Album der Rolling Stones sein.

The Rolling Stones: „Hackney Diamonds“ ist das erste richtige Album seit Langem

Und man muss halt auch sagen: Es ist nicht nur ein Thema wie das fortgerückte Alter, das für manche eher nach Rock-Rente als nach Album-Comeback schreit, das immer wieder auf der Tagesordnung ist. Das Leben ist bedauerlicherweise eine im Grunde banale Angelegenheit. Altern gehört dazu, Lieben, Sex, menschliche Nähe, Streit.

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Warum sollte also ein geriatrischer Gigant wie der 80-jährige Mick Jagger nicht über Beziehungskalamitäten, Paarungswünsche und Herzeleid singen wie in den ersten drei Stücken von „Hackney Diamonds“, einem Album, das tatsächlich frisch und fesch aus den Boxen scheppert? Es klingt so, als wäre es der Plan der Rock-‘n‘-Roll-Opas gewesen, den Soundtrack fürs eigene Work-out im Fitnessstudio zu machen. Sie machen sich klanglich dabei schon mal muskulöser, als sie eigentlich sind. Die Gitarren klingen kraftmeierisch, Jaggers Gesang erst recht. Schon auch komisch, wenn sehr alte, sehr reiche Männer immer noch die Attitüde eines Street Fighting Man an den Tag legen.

Das Cover von „Hackney Diamonds“.
Das Cover von „Hackney Diamonds“. © DPA Images | --

Die energetische Aggressivität von „Bite My Head Off“ ist eine Schau und geht noch einmal weiter als der lässig aus dem Ärmel geschüttelte, balzende Zorn der ersten Single „Angry“. Das Video mit „Euphoria“-Star Sydney Sweeney als freizügige Fantasie geiler Blues-Böcke war in seiner Lächerlichkeit vielleicht fast (!) schon wieder glorreich. Einfach mal genau das tun, was maximal peinlich aussieht. Wobei der beinahe klappende Trick ist, dass die Stones auf den Billboards die Stones aus den jungen Jahren sind, nicht die der späten.

Rolling Stones: Pop-Legierung vom Feinsten auf „Hackney Diamonds“

„Angry“ eröffnet dieses zwölf Stücke umfassende und von Andrew Watt (Justin Bieber, Pearl Jam, Iggy Pop, Miley Cyrus) produzierte Album. Danach folgt das ebenso eingängige „Get Closer“ mit Jaggers ausgerotztem „I wanna get closer to you“ als universelle Menschheitsformel. Wie könnte man die Gitarren und das Saxofon in diesem Song nicht lieben? In „Depending On You“ ist die Euphorie dann erst mal weg („She gave her love to somebody else“), aber die Pop-Legierung vom Feinsten.

Man darf sich nichts vormachen. Der nichts als hervorragende Eindruck, den Jagger, Wood und Richards auch bei Stücken wie „Mess It Up“ und „Live By the Sword“ (einer von zwei Songs, auf denen der 2021 gestorbene Charlie Watts trommelt) hinterlassen, hat auch etwas mit der steinernen Verknappung in den vergangenen Jahren zu tun. Museal geworden sind sie nicht, weil sie ja noch auf Tour gingen; aber sie haben sich hartnäckig auf ihre Klassiker verlassen. Das war im Zweifel besser so. Aber wie sollte man es nun nicht gut finden, wenn endlich noch mal ein paar tatsächlich bestechende Stones-Songs dazukommen?

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Sicher, nicht alle Stücke auf „Hackney Diamonds“ sind hochkarätig. Richards‘ notorisch unterwältigender Gesangsbeitrag („Tell Me Straight“) ist immerhin eine verlässliche Konstante. Man muss ihn einfach machen lassen, wer für Generationen von Rockmusikfans ein Idol war, darf alles, auch schunkelnd barmen: „How do we meet, how do the part?“. Der „Rolling Stones Blues“, der dieses dennoch alterssmarte Album beschließt, ist die standesgemäße Verbeugung vor den Musikern, die den Bürgerkindern aus England ihre Karriere schenkten. In Erinnerung bleiben und auf der Playlist wird aber die Nummer vor diesem schnörkellosen Rausschmeißer, der Sieben-Minuten-Gospel „Sweet Sounds Of Heaven“ mit Lady Gaga und Stevie Wonder. „Let no woman or child/Go hungry tonight/Please protect us from the pain/And the hurt, yeah“, singt Jagger.

The Rolling Stones bei einem Auftritt in der Ernst-Merck-Halle in Hamburg am 14. September 1970. Auf der Bühne (v. l.): Mick Taylor, Mick Jagger, Keith Richards und Charlie Watts.
The Rolling Stones bei einem Auftritt in der Ernst-Merck-Halle in Hamburg am 14. September 1970. Auf der Bühne (v. l.): Mick Taylor, Mick Jagger, Keith Richards und Charlie Watts. © picture alliance / Bernd Beutner | picture alliance

Der schwerreiche Ober-Stone hat übrigens kürzlich in Aussicht gestellt, dass im Falle eines Verkaufs der Rechte an den Stones-Songs sein Anteil für wohltätige Organisationen gespendet werden könnte. Klingt nach einem guten Plan. „Hackney Diamonds“ ist in jedem Fall keine Schmach, im Gegenteil. Das Album ist eine revitalisierte Version des guten, alten Rock. Diesen schrumpeligen Rabauken, der es heute schwerer als früher hat; aber wenn er so auf den Punkt produziert ist wie hier, dann vibriert er. Ignorieren wir die knackenden Kniegelenke und die schmerzenden Hüften.