Hamburg. Ein 76-Jähriger, dessen Tage gezählt sind, seine Frau und ihr gemeinsamer kleiner Sohn: Das sind die Helden dieses stillen Buchs.
Die Anfangsszene kommt dem Leser, der sich in der Gegenwartsliteratur auskennt, bekannt vor. Ein Mann jenseits der 70 sitzt beim Arzt und erhält eine tödliche Diagnose. Martin, Jurist, 76, hat Bauspeicheldrüsenkrebs. Zwölf Wochen gibt ihm sein Arzt. Und den Tipp: Er soll sich jetzt nicht umbringen. „Sie sagten, Sie wollten sich lieber das Leben nehmen als eines qualvollen Todes sterben“, teilt ihm der Arzt mit Blick auf ein länger zurückliegendes Gespräch mit, in dem Martin noch völlig gesund theoretische Überlegungen angestellt hatte. Martin solle seinem Sohn die Gelegenheit geben, sich von ihm zu verabschieden, rät der Mediziner. Sechs Jahre alt ist David. Martin ist ein später Vater.
Die Szene im Behandlungsraum setzt die Handlung von Bernhard Schlinks neuem Roman „Das späte Leben“ in Gang, es geht um die letzten Dinge. Um das, was man vor seinem Tod noch regeln möchte. Martins Tage sind gezählt. So wie es die von Benno in Mirko Bonnés Roman „Alle ungezählten Sterne“ sind, dem 2023 erschienenen großen Roman über das Sterben und den Graben zwischen den Generationen. Bei Schlink gibt es kein zweites übergeordnetes Thema wie bei Bonné; doch die Generationenfrage stellt sich auch hier. Aber ganz anders.
Bernhard Schlinks Roman „Das späte Leben“: eine Vielzahl von berührenden Szenen
Im Kindergarten wurde Martin oft für Davids Großvater gehalten. Er ist der aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedene, der seiner Frau, der Galeristin Ulla, den Rücken freihält und viele Betreuungsaufgaben, also auch das Kita-Chauffieren, übernimmt. Eine Frau, die ihn vermutlich um Jahrzehnte überleben wird, ein Sechsjähriger, der auch den weit größeren Teil seiner Kindheit ohne Vater auskommen muss: Man weiß schon auf den ersten Seiten dieses wie jeder andere Roman Bernhard Schlinks („Der Vorleser“, „Die Enkelin“) weit oben auf der Bestsellerliste stehenden Buchs, dass einen nun eine Vielzahl von berührenden Szenen erwartet.
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In diesem Falle ist der Autor, dessen Werk einigen Schwankungen unterlag, mit seinem einfachen, zurückgenommenen Erzählstil auf der richtigen Seite. Schlinks literarischer Versuch, von den letzten Wochen eines vom Tode gezeichneten Mannes zu erzählen, rührt zum einen an ein Tabu; der Tod ist eines der größten, auch in der Literatur. Zum anderen ist bei den Familiengeschichten und Schicksalsschlägen Klischeealarm angesagt. Bernhard Schlink gelingt es in diesem Buch, Melodramatik weitgehend aus dem Weg zu gehen. Das ist keine kleine Leistung.
Seinem Sohn schreibt Martin „Rasierbriefe“, um ihm postum ein paar Dinge mit auf den Lebensweg zu geben. Die Briefe selbst, in denen es gerade nicht darum geht, wie man sich richtig den Bart stutzt, sind Bestandteil des Romans und drehen sich inhaltlich um Dinge wie die Liebe und den Tod. Man kann diese Ausführungen Martins für langweilig oder sogar falsch halten. Darum geht es nicht. Es geht darum, wie Schlink hier einen insgesamt bemerkenswert kühlen und rationalen Mann zum Protagonisten des größten Dramas macht, das das Leben für uns bereithält (sterben zu müssen). Einen Mann, der viel darüber nachdenkt, wie das Leben der Hinterbleibenden weitergeht.
Neuer Roman von Bernhard Schlink: Soll der Protagonist einen Komposthaufen anlegen?
Martin weiß nicht, welcher der richtige Weg ist, nach seinem eigenen Ableben im Lebens des noch so kleinen Sohns zu bleiben. Soll er einen Komposthaufen anlegen, den David pflegt, wenn er selbst nicht mehr ist? Ulla ist strikt dagegen. Das Ding soll den gemeinsamen Sohn an seinen Vater erinnern? Es wird doch vor allem ihr nur Arbeit nach seinem Tod machen! Wie sich die Eheleute nach der Diagnose, trotz mancher Konfikte, noch einmal neu nahkommen, ist auch Thema von „Das späte Leben“.
Hier gönnt Schlink sich und den Lesenden einige Spannungseffekte. Wer ist der Mann, dem Ulla vor der Galerie um den Häls fällt, mit dem sie, wie er erst zufällig und dann durch Nachspionieren feststellt, viel Zeit verbringt? Und kann er Ulla in einer anderen Sache helfen, nämlich bei der Überwindung eines früheren Verlustschmerzes, der mit dem abwesenden Vater in ihrer Kindheit zusammenhängt?
Als Leser wird man in diesem nicht dicken, unprätentiösen Buch automatisch in die Situation des Beurteilenden versetzt. Wie finde ich Martins Umgang mit der Kenntnis des nahenden Todes? Gedanken daran, wie man selbst in dieser Lage agieren könnte, müssen einen nicht niederdrücken. Vielleicht ist das der wichtigste Hinweis, den dieser leise, melancholische Text gibt.
Bernhard Schlink gelingt ein beinah unkitschiges Buch – keine kleine Leistung
„Kannst du nicht einmal großzügig sein“, wirft Ulla, die bald Witwe sein wird, ihrem Mann vor und kritisiert damit seine Bemühungen, im Diesseits von denen, die er liebt, erinnert zu werden. Sie bekommt dann mehr als einmal vorgeführt, wie großzügig Martin tatsächlich ist.
Mit „Das späte Leben“ ist dem Erfolgsautor Bernhard Schlink ein beinah unkitschiges Buch über die Alltäglichkeit des Sterbens gelungen. Die Entscheidung, eine eher ungewöhnliche Familienkonstellation zum Ausgangspunkt zu machen, mag ihm bei seinem Vorhaben sicher geholfen haben. Die vielen Leserinnen und Leser hat dieser Roman so oder so verdient.