Hamburg. Am Sonntag ging der renommierte Boy-Gobert-Preis an Pauline Rénevier. Thalia-Darstellerin spielt auch in RTL-Serie „Sisi“.
- Matinee im Thalia-Theater: Pauline Rénevier kann sich über begehrten Boy-Gobert-Preis freuen
- Die Nachwuchsschauspielerin hat bereits eine beachtliche Karriere vorzuweisen
- Im Abendblatt-Interview spricht sie über ihre Anfänge und auch Zweifel
Hamburg. Eigentlich fällt sie schon mit ihrem ersten Auftritt vor Publikum auf. In Robert Wilsons streng-philosophischem Hawking-Abend „H – 100 Seconds to Midnight“ bezaubert Pauline Rénevier mit statuenhafter Eleganz, klarer Präsenz und einer ernsthaften Durchdringung des Textes, die für eine gerade mal 25-jährige Schauspielerin bemerkenswert ist. Man kann sich vorstellen, dass das ein Ergebnis von nicht ganz müheloser Probenarbeit war, aber Rénevier ist eine Schauspielerin, die Herausforderungen nicht nur sucht – sondern auch meistert.
Nach gerade mal einem Jahr im Ensemble des Thalia Theaters erntet sie nun die Lorbeeren dafür. Am Sonntag erhielt sie in einer Matinee im Thalia Theater den begehrten Boy-Gobert-Preis 2023 der Körber-Stiftung. Die mit 10.000 Euro dotierte Nachwuchs-Auszeichnung ist hochverdient.
Pauline Rénevier ist Boy-Gobert-Preisträgerin und gibt zu „Ich war auch manchmal verzweifelt“
Als der Anruf kam, habe sie sich wahnsinnig gefreut, sagt Pauline Rénevier bei einer Begegnung einige Tage vor der Preisverleihung im Teeraum des Thalia Theaters. Ganz in Schwarz ist sie gekleidet, in langem Mantel mit großem Schirm, eine vollendete klassische Erscheinung, wären da nicht die robusten Punk-Stiefel. „Ich war wahnsinnig berührt, weil es für mich so unglaublich ist, an diesem Theater zu spielen. Ich wollte immer unbedingt an diese Bühne. Und jetzt bekomme ich das Feedback, dass es total richtig ist, dass ich hier bin.“
Pauline Rénevier wird in Rio de Janeiro geboren, kommt aber schon als Baby mit ihren Eltern, die einige Zeit beruflich als Messeveranstalter in Brasilien verbringen, zurück in die Hansestadt. Hier steht sie schon im Alter von neun Jahren vor der Kamera, wirkt in zahlreichen TV-Filmen und Krimis mit. „Das ist so ein bisschen passiert. Ich hatte immer Schauspielunterricht als Kind, hätte aber nie von mir gesagt, dass ich einmal diesen Beruf ausüben würde“, sagt Pauline Rénevier mit entwaffnender Ehrlichkeit. So kommt es, dass sie auch ihre Bewerbungen an renommierte Schauspielschulen eher spielerisch angeht. „Ich wollte ausprobieren, ob ich es hinkriege.“
Nach einigen Absagen wirft sie die Monologe weg, von denen sie dachte, dass sie gefallen würden, schafft sich innerhalb einer Woche drei neue drauf, darunter sehr komische, die sie sehr mag – und wird in Hamburg und Hannover angenommen. „Ich habe gemerkt, dass das Gelingen davon abhängt, ob man sich wirklich für einen Text interessiert und Lust hat, den zu zeigen.“
Pauline Rénevier begeistert Robert Wilson und kommt ans Hamburger Thalia Theater
An der Hamburger Theaterakademie wird ihr spätestens im zweiten Jahr klar, dass sie nun doch endgültig Schauspielerin werden will. „Es ist ein wirklich emotionales Studium. Obwohl wir mit acht Studierenden total zusammengewürfelt waren, mussten wir zusammenhalten und uns stützen. Das hat mir wahnsinnig viel Spaß gemacht.“
Zwei Tage vor der Premiere ihrer Abschluss-Inszenierung erreicht sie dann eine Einladung zum Casting bei Robert Wilson, von dem sie, wie sie einräumt, zuvor noch nie gehört hatte. Der legendäre Theatermacher und Formpionier („Black Rider“) habe eine besondere Aura verbreitet, die Rénevier noch nicht ganz einordnen konnte, was ihr aber wohl auch in der Situation half. Wilson sagt, die wenigsten Schauspieler könnten überhaupt nur stehen auf einer Bühne, und lässt die Kandidatinnen genau das tun. Zwischendurch kurz vor der Ohnmacht, steht die junge Frau es durch, wird für die Inszenierung ausgewählt und erhält ein zweijähriges Engagement am Thalia Theater.
Im Verlauf der Proben sind dann Wadenschmerzen beim Halten einer Position noch das Geringste. „Es war wahnsinnig herausfordernd. Ich dachte, mit so einer strengen Form und Körperlichkeit kann ich umgehen, da ich auch lange Ballett getanzt habe, aber ich war schon auch manchmal verzweifelt“, gibt sie zu. Auf der Premiere von „H - 100 seconds to midnight“ zur Spielzeiteröffnung lastete ein enormer Druck. „Bob kann sehr warm sein, aber die Arbeitsweise ist schon sehr technisch. Wir müssen 80 Bewegungs-Cues ausführen, in denen jede kleinste Bewegung festgelegt ist. Hinzu kommen die Texteinsätze und die Wahrnehmung der Mitspielenden.“ Inzwischen, so sagt Rénevier, laufe jede Vorstellung wie eine gut geölte Maschinerie ab.
Thalia Theater: Pauline Rénevier hatte zunächst Sorge, in typischen „Julia“-Rollen besetzt zu werden
Seither hat sie mit „Schöne neue Welt“ und der Uraufführung „Dantons Tod Reloaded“ auch in gleich zwei Arbeiten des iranischen Theatermachers Amir Reza Koheestani mitgewirkt, den sie wahnsinnig schätzt für seine Geduld, seinen Humor und seine Klugheit. „Er ist toll, mit jemandem zu arbeiten, der in einem anderen Land lebt und deshalb einen Blick von außen auf unser System hat. Ich habe die Arroganz, dieses Selbstverständnis Europas oder der westlichen Welt begriffen und auch, wie unangebracht das ist.“ Seine hochpräzisen Arbeiten leben ebenfalls von enormer technischer Akkuratesse. „Da kann man nicht einfach so loslegen.“
Das wiederum konnte sie bei Jan Bosse und seiner Version von „König Lear“. Er stelle sofort eine Augenhöhe her. „Auf den Proben herrscht eine warme, herzliche, bekloppte Atmosphäre“, sagt Pauline Rénevier. „Er schaut sich erst mal alle Angebote an und fördert eigene Ideen. Er gibt allen Raum und traut jedem etwas zu. Es macht großen Spaß, mit ihm zu proben.“ Sie habe zuvor Sorge gehabt, im Ensemble in typischen „Julia“-Rollen besetzt zu werden, doch hier ist sie die Tochter des Königs, aber zugleich der Bruder, der auch mal ein wildes Kostüm tragen darf. Und erspielt sich Sichtbarkeit. Die Rolle wird ihr Durchbruch.
Wandelbar: Pauline Rénevier spielt in RTL-Serie „Sisi“
Dem Theater gehört jetzt erst einmal die nahe Zukunft. Das Drehen, das ihr ebenfalls viel Freude bereitet – noch immer ist sie in zwei Staffeln der TV-Serie „Sisi“ zu sehen –, pausiert für den Moment. „Ich bin am Theater so gefordert und möchte es jetzt auch genießen, mich fokussieren.“ Derzeit gilt ihr Engagement natürlich auch der Preisverleihung, bei der die Preisträgerinnen und Preisträger sich traditionell mit selbst erarbeiteten Szenen künstlerisch vorstellen. Im Augenblick wälzt Rénevier mit einem Freund, der das Regiestudium an der Theaterakademie absolviert hat, gemeinsam Gedanken und schreibt Texte.
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Pauline Rénevier habe eine Dringlichkeit des inneren Ernstes ebenso bewiesen wie eine überschäumende Spielfreude in der Improvisationskunst, heißt es unter anderem in der Jury-Begründung, die sie selbst „wahnsinnig schön“ findet. „Wenn das so ist, dann habe ich alles richtig gemacht.“