Hamburg. Robert Wilson ist zurück am Thalia Theater. Ein Gespräch über Zeitreisen, die nackte Lady Gaga – und eine große Premiere.
Robert Wilson, den alle „Bob“ nennen, gehört zu den Menschen, die noch eine Armbanduhr tragen. Ob sie langsamer tickt als handelsübliche, ist nicht auszumachen. Die Zeit, die man mit Bob Wilson verbringt, läuft in jedem Fall anders als bloß geradeaus. Auf der Bühne sowieso, aber auch im persönlichen Gespräch. Wilson, 80, lässt auf sich warten, nimmt sich dann aber Zeit. Er spricht ruhig, langsam, manchmal auch gar nicht.
Wenn er rezitiert, was gelegentlich vorkommt, kann er laut werden, die anderen Gäste im Foyer seines Hamburger Hotels stören ihn dabei nicht im Geringsten, fast hat man den Eindruck: Er nimmt sie gar nicht wahr. Mehr als 30 Jahre nach seinem legendären „Black Rider“ arbeitet er wieder am Thalia Theater.
Außer Wilson sind die im vergangenen Jahr gestorbene Künstlerin Etel Adnan und der Astrophysiker Stephen Hawking (1942-2018) Teil des Stückes, ebenso wie der Komponist Philip Glass und die US-Choreografin Lucinda Childs. Was für ein Klassentreffen. Die Uraufführung „H – 100 seconds to midnight“ wird am Freitag die Thalia-Saison eröffnen.
Hamburger Abendblatt: Sie stehen wenige Tage vor einer großen Premiere. Ist das für Sie noch immer ein aufregender Moment?
Robert Wilson: Ich bin neugierig. Ich habe das Stück noch nicht vollendet. Als ich jünger war, habe ich immer mit der letzten Szene begonnen. Das Ende war mein Anfang.
Anfang und Ende – die Zeit ist ein Thema in vielen Ihrer Arbeiten. In diesem, das die letzten Sekunden schon im Titel trägt, ganz besonders?
Wilson: Ja, das liegt auch an Etel Adnans Texten. Sie war eine Philosophin, Autorin, Malerin. Sie beschäftigte sich mit Zeit und Raum. Und Stephen Hawking ebenfalls. Beide aus verschiedenen Blickwinkeln. Ursprünglich habe ich Etel Adnan gebeten, ein ganzes Stück zu schreiben. Aber sie starb vor einem Jahr. Kurz davor sagte sie, ich weiß nicht, ob ich es bis zur Premiere schaffen werde, aber Du kannst immer meine Texte benutzen. Und Philip Glass hatte mich schon vor Jahren gebeten, an einem Stück über Stephen Hawking zu arbeiten. Dann schenkte zufällig die Tochter von Thalia-Intendant Joachim Lux ihrem Vater das Buch „Kurze Antworten auf große Fragen“ von Hawking. Alle Puzzle-Teile fielen an ihren Platz.
Was bedeutet das „H“ im Stücktitel? Spricht man es englisch aus, meint es vielleicht auch „age“, also das Alter...
Wilson: Oh, das „H“ steht für Hamburg! (lacht) Es könnte auch für „Hawking“ stehen! Oder für die „Hölle“ oder für „age“... Es ist, was es ist. In „Alice“, das ich mit Tom Waits zusammen entwickelt habe, sagt die Raupe zu Alice im Wunderland: „Alles, was Du denken kannst, ist wahr. Das Geschirr ist mit dem Löffel abgehauen. Alles, was Du denken kannst, ist wahr.“ Es ist voller Bedeutung. Ich kann jeden Tag anders darüber nachdenken, wenn ich will.
Mögen Sie es, die Leute rätseln zu lassen, welche Bedeutung etwas haben kann?
Wilson: Manche Leute sagen, Robert Wilsons Arbeit besteht aus hübschen Bildern, er ist nicht interessiert an Worten oder Texten. Mitte der 1990er-Jahre nahm ich mir deshalb etwas vor: Ich lernte den Text von Shakespeares „Hamlet“ auswendig.
Moment, den ganzen „Hamlet“?
Wilson: Alles, alle Rollen. Das war die größte Herausforderung in meinem Leben. (beginnt lautstark und ausführlich zu rezitieren) „How all occasions do inform against me/ And spur my dull revenge! (…) Examples gross as earth exhort me:/ Witness this army of such mass and charge/ Led by a delicate and tender prince/ Whose spirit with divine ambition puff’d/ Makes mouths at the invisible event...” Das kann ich jede Nacht aufsagen. Das ist „Hamlet”, vierter Akt, vierte Szene. Und jede Nacht sage ich es anders. Shakespeare konnte nicht vollständig verstehen, was er schrieb, weil es nicht dazu gedacht war, vollständig verstanden zu werden. Es ist etwas, worüber wir nachdenken. Es kann heute die eine und morgen eine andere Bedeutung haben. Das heißt nicht, dass es keine Bedeutung hat, es ist voller Bedeutungen. Es gibt nicht die eine Interpretation. Das Verstörende am Theater ist, dass immer jemand eine Idee hat. Ideen sind langweilig. Das „H“ im Titel dieser Produktion hat also mehrere Bedeutungen.
Sprechen wir mal von H wie Hawking. Unendlichkeit ist ein wichtiger Aspekt in seinen Überlegungen.
Wilson: Ja. Ich habe Angst davor.
Sie wollen lieber das Ende wissen?
Die Unendlichkeit hat so viele Assoziationen...
Zeitreisen haben Stephen Hawking sehr interessiert. Er hat einmal Zeitreisende zu einer Party eingeladen, die Einladungen aber erst hinterher verschickt. Leider ist niemand gekommen, also funktioniert es womöglich nicht... Aber vielleicht ist Ihre Arbeit am Thalia Theater, 20 Jahre nach Ihrer letzten Inszenierung dort, 30 Jahre nach Black Rider, auch eine Art Zeitreise?
Wilson: Ja! Es ist wundervoll, zurück an diesem wunderschönen Theater zu sein. Einige Techniker von damals sind immer noch da. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis. Es ist eine Art Familie. Und es ist sehr wichtig, sich gut mit dem technischen Direktor zu verstehen! Ich selbst bin nicht gut darin, technische Probleme zu lösen.
Sie haben immer wieder in Deutschland gearbeitet. Zuletzt haben Sie „Dorian“ am Düsseldorfer Schauspielhaus gezeigt. Was ist das Besondere für Sie am deutschen Stadttheatersystem?
Wilson: Es ist ein Segen. Es existiert eine solche Vielfalt an Möglichkeiten. Denken Sie nur an das Thalia Theater – mit „H – 100 seconds to midnight“ bekennt es sich zu einem noch völlig unbekannten Stück. Einem weißen Blatt Papier. Da kommt ein Texaner hierher – ich – und spricht kein Deutsch und macht so etwas. Ich habe schon Goethes „Faust“ in Berlin inszeniert. Bugs Bunny aus Texas hat es inszeniert! (lacht) Hier in Deutschland ist das Theater international, und es ist erschwinglich. In den USA zahlen die Leute 500 Dollar, um ins Theater zu gehen, 800 Dollar für die Oper. New York zeigt vor allem Boulevard-Theater für Touristen. In Amerika sind wir sehr abgeschnitten. Wir schauen nicht über die Grenzen. Deutschland hat, wenn man sich die kulturellen Programme anschaut, ein höheres Bewusstsein davon, was global passiert.
Haben Sie je überlegt, nach Europa zu ziehen?
Wilson: Ich traf Man Ray kurz vor seinem Tod. Damals überlegte ich, nach Paris zu ziehen. Ich hatte so wenige Möglichkeiten in meinem eigenen Land zu arbeiten. Man Ray sagte: Tu es nicht! Er selbst, als Amerikaner, hat es bereut. Gib Deine Wurzeln nicht auf, sagte er. Ich habe dann das Watermill Center gegründet, um ein Zuhause zu haben. Ich wollte dort Leute aus allen Teilen der Welt einladen – eine Politik der offenen Türen finde ich wichtig. Nach 9/11 habe ich 53 Muslime aus Indonesien in die USA gebracht – es war nahezu unmöglich. Ich traf mich auch mit Fidel Castro auf Kuba, und tatsächlich gab er mir die Erlaubnis, mit elf kubanischen Studierenden für eine Produktion in Amerika zu arbeiten. Aber die US-Behörden haben mir diese Erlaubnis nicht erteilt. Das Watermill Center auf Long Island ist eine alte Fabrik, ein Labor. Am Eingang gibt es kein Tor, wir haben eine Politik der offenen Tür. Reich oder arm, egal aus welcher Nation, jeder kann zu jeder Zeit dort hineingehen. Das ist es, was mein Land gerade sehr stark braucht.
Stephen Hawking haben die ganz großen Fragen beschäftigt: Gibt es einen Gott? Wie hat alles angefangen? Sie sind nicht religiös, haben Sie einmal gesagt. Würden Sie sich dennoch als einen Suchenden bezeichnen?
Wilson: Ja. Ich bin nicht religiös, aber ich bin eine spirituelle Person. Religion und Politik trennen die Menschen. Kunst hat die Macht, Menschen zusammenzubringen. Aus all dem Guten, das Barack Obama getan hat, fallen mir zwei Dinge besonders auf: Er hat die Krankenversicherung eingeführt. Und als ihm in South Carolina beim Begräbnis eines schwarzen Jungen, der durch Polizeigewalt starb, die Stimme versagte, hat er „Amazing Grace“ gesungen, ein Spiritual. Ich bin noch immer ein Fan von ihm.
Kommen wir noch einmal auf das „age“ im Titel „H“ zurück. Wein wird besser mit dem Alter. Wie geht es Ihnen damit? Wird Ihre Kunst mit den Jahren besser? Genauer? Wissen Sie heute besser, was Sie tun?
Wilson: Ich glaube, als Künstler ist die Arbeit immer eins. Mein Körper ist der gleiche wie der, als ich zwei Jahre alt war. Albert Einstein wurde einmal gefragt, ob er einen Satz wiederholen könne. Er antwortete, das ist nicht notwendig, weil alles dem gleichen Gedanken entspringt. Proust sagte, er schriebe immer die gleiche Erzählung.
Und Sie?
Wilson: Ich arbeite an vielen Dingen gleichzeitig und an sehr unterschiedlichen Dingen. Es ist immer der gleiche Gedanke. Die Zeichnung ist neu, aber es ist die gleiche Hand.
In der neuen Produktion kehren Sie auch zu Ihren Anfängen im Minimalismus zurück. Inwiefern eignet sich der Minimalismus, um die Gegenwart zu beschreiben?
Wilson: Ich weiß gar nicht, was Minimalismus ist. Dieses Label! Viele sagten, „Einstein on the Beach“ sei Minimalismus, aber es ist so kompliziert! An der Oberfläche sieht es einfach aus. Die Haut sieht einfach aus. Aber darunter ist es komplex. Und auf der Oberfläche liegt das Geheimnis.
Stephen Hawking war, wie Einstein, ein bedeutender Wissenschaftler, aber er wurde auch zu einer Art Pop-Persönlichkeit. Ist das auch etwas, was Sie an ihm interessiert?
Wilson: Das Großartige an ihm ist sein Humor. Er verstand Ironie. Wer keinen Humor hat, sollte kein Theater machen. Selbst Medea braucht das - wie soll man es sonst anstellen, jeden Abend zwei Kinder zu ermorden? Wir müssen Licht in der Dunkelheit finden. Ich wiederhole mich vielleicht, aber Kunst hat diese Fähigkeit. Ich habe mal mit Lady Gaga gearbeitet, sie ist übrigens eine Perfektionistin, eine hervorragende Organisatorin. Und irgendwann rief sie mich an und sagte: Bob, kannst du mir was über das Theater erzählen? Ich sagte, ja, Gaga, ich kann dir die Broadway-Formel sagen: Du startest stark und endest groß. Sie bedankte sich: Das ist alles, was ich wissen muss! Einige Wochen später rief sie wieder an und wollte etwas über das Theater wissen. Also sagte ich ihr: Gaga, die erste Sekunde ist sehr wichtig. Aber am wichtigsten ist die letzte Sekunde. Wenn du die letzte Sekunde vernünftig hinkriegst, vergeben sie dir alles, was du den restlichen Abend getan hast. Ich schaute mir eine Performance an, die sie für die MTV Music Awards machte: Am Anfang war sie komplett verhüllt, nur ihr Kopf schaute aus diesem schwarzen Umhang heraus. Und in der letzten Sekunde ist sie absolut nackt bis auf die Muschelschalen, die ihre „private parts“ bedecken. Sie fragt mich, wie ich es fand, und ich sagte: Du lernst schnell! Du hattest die erste und du hattest die letzte Sekunde.
Wie sehen Sie sich selbst – ist Bob Wilson auch Pop? Sind Sie eine Marke?
Wilson: Eine der Thalia-Schauspielerinnen sagte mir kürzlich nach der Probe: „Ich arbeite gern mit dir, du bist sehr klar darin zu sagen, was du willst.“ Ich gebe tatsächlich eine sehr strenge formale Richtung vor: schneller, lauter, langsamer, stiller, mehr innerlich, mehr äußerlich. So etwas. Aber niemals, wirklich niemals habe ich in all den Jahrzehnten, die ich am Theater arbeite, einem Schauspieler gesagt, was er denken soll. Oder fühlen soll. Nie. Wie jemand diese strenge Form füllt, ist absolut seine Sache. Auf eine Art sehr restriktiv also, auf eine andere auch sehr befreiend. Ich muss nicht wissen, was jemand denkt. Und derjenige oder diejenige auf der Bühne muss auch nicht wissen, was ich denke oder fühle.
Für wen machen Sie Theater? Für sich selbst? Für das Publikum?
Wilson: Wir machen Theater für uns selbst, zuerst, aber schlussendlich machen wir es für eine Öffentlichkeit. Man bietet einen Raum an. Als ich zum ersten Mal nach New York kam, habe ich die Arbeit von George Balanchine am New York City Ballet gesehen. Ich mochte seine abstrakten Arbeiten besonders, weil sie mir als Zuschauer so viel Zeit zum Denken gaben! Wie bei Hamlet eigentlich: Ich habe jede Nacht dieselben Zeilen gesprochen, ich habe meine eigenen Ideen dazu, meine eigenen Gefühle. Aber ich bestehe nicht darauf, dass Sie dasselbe denken oder fühlen. Das geht ja auch gar nicht.
Von all den Inszenierungen, die Sie über die Jahre gemacht haben – welche Produktionen sind Ihnen besonders in Erinnerung? Gibt es so etwas wie Lieblingsarbeiten?
Wilson: Es gab Arbeiten, die einfach funktioniert haben. Meine erste große Arbeit zum Beispiel, „Deafman Glance“, die ich 1970 mit einem afroamerikanischen Jungen gemacht habe, Raymond. Er war taub und hatte nie eine Schule besucht. Ich machte ein Stück mit ihm, dass sieben Stunden dauerte, in kompletter Stille. Ich hatte zu dem Zeitpunkt nie über eine Karriere am Theater nachgedacht. Ich war überrascht über den phänomenalen Erfolg. Wir wollten zwei Performances in Frankreich machen und haben es dann aber fünfeinhalb Monate gespielt, für 2200 Leute jeden Abend. Ein Sieben-Stunden-Stück in völliger Lautlosigkeit! Ich wusste nichts über Theater. Manchmal ist es für mich eine Überraschung, wie mein Leben… (Pause) Auch einige Arbeiten, die ich mit Christopher Knowles gemacht habe, sind mir besonders nah. Ich traf ihn durch Zufall, und er hat mein Leben so verändert. Am ersten Abend, an dem wir zusammen waren, hat er mir gesagt: Ich erinnere mein komplettes Leben. Und das kann er. Christopher Knowles hat „Parzival“ hier in Hamburg gespielt. Und dann habe ich „Time Rocker“ gemacht, auch hier am Thalia Theater, mit Lou Reed. Lou ist laut, viel Sound. Direkt danach habe ich Luigi Nonos „Prometeo“ gemacht, was ganz still ist. Ich habe viel über Musik gelernt. Und in einer einzigen Spielzeit habe ich mal Virginia Woolfs „Orlando“ gemacht und einen Tschechow an den Kammerspielen und Shakespeare in Frankfurt und dann William S. Burroughs und Tom Waits hier...
Die Stille spielt bei Ihnen eine so große Rolle, die Pausen, das Schweigen. Aber Sie arbeiten ohne Unterbrechung. Sie reisen von einem Land ins nächste, von einer Theaterprobe zur nächsten Ausstellung. Haben Sie in Wahrheit eigentlich Angst vor der Stille?
Wilson: Wahrscheinlich. (Lange Pause, man hört das Klappern an der Hotelbar und das Murmeln der anderen Gäste.) Wenn wir ganz still sind, hören wir etwas, das es so nicht noch einmal geben wird. Die einzige Konstante ist die Veränderung. Wenn wir ganz ruhig sind, nehmen wir auch Bewegung bewusster wahr. In der Stille liegt die eigentliche Bewegung.
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Funktioniert das demnach auch andersherum? Gerade in der Rastlosigkeit finden Sie Ihre Ruhe? Ihren Frieden?
Wilson: Ja, das tue ich. Aber am Morgen verbringe ich die erste Stunde mit: nichts. Um die Dämonen aus meinem Kopf zu bekommen. Es ist ganz schön schwer, nichts zu denken. Ich habe viele, viele Jahre gebraucht, um an einen Punkt zu kommen, an dem ich einfach nichts denke. In Texas habe ich einmal den kleinen Nachbarsjungen meines Vaters beobachtet, wie er in seinem Wohnzimmer saß und auf seine Finger blickte. Ich schaute ihm vielleicht zehn Minuten oder so dabei zu. Seine Mutter kam heran, es machte sie ganz ungeduldig, sie fragte: John, was denkst du, was machst du da? Und der Junge schaute hoch und sagte nur ganz ruhig: „Nichts.“ Einfach: nichts. Wie wunderschön.
„H – 100 seconds to midnight“, Thalia Theater, Premiere Fr 9.9., 20 Uhr (ausverkauft), Voraufführungen 6.-8.9., Karten unter T. 328 14-444 und www.thalia-theater.de