Hamburg. Das Thalia Theater eröffnet die Saison mit viel Licht, viel Schatten, etwas Selbstironie – und auch einer Portion Kitsch.
Während der Intendant des Hauses zur Eröffnung der Thalia-Theatersaison noch von „Gegenräumen des Schönen“ spricht und sich „für das Licht zuständig“ fühlt, während der Kultursenator um das Unbequemere erweitert und die Wissenschaft nicht ohne die Kunst denken möchte, die Aufklärung nicht ohne die Fantasie – belässt es Robert Wilson, den alle „Bob“ nennen und für den sie schließlich heute alle zusammen gekommen sind, bei einer verschmitzten Aufforderung. „Listen to the pictures...“ sagt er vor der Premiere seines neuen Stückes „H – 100 seconds to midnight“. Hört den Bildern zu. Als wäre es ganz einfach.
Bob Wilson am Thalia Theater – in Hamburg stets verehrt
Dabei ist schon das erste Bild ein Rätsel. Ein Buchstabe schwebt mittig vor dem Vorhang, ein Leuchtschrift-„H“, das herrlich banal für „Hamburg“ stehen könnte, wo Robert Wilson stets besonders verehrt wird. Oder für ein lässig-amerikanisches „Hi“, mehr als 20 Jahre nach der letzten Inszenierung des US-Regisseurs an dieser Bühne, mehr als 30 Jahre nach seinem internationalen Thalia-Erfolg mit „Black Rider“.
Oder „H“ wie Hawking, Stephen, der berühmte Astrophysiker, dessen großen Fragen nach Anfang, Sinn und Unendlichkeit sich dieser Abend widmet. Mit denselben Komplizen – dem Komponisten Philip Glass und der US-Choreografin Lucinda Childs – hatte Wilson einst schon „Einstein on the beach“ auf die Bühne gebracht.
Thalia Theater – sofortige Vertrautheit der Wilson-Ästhetik
„H“ für „Handlung“? Eher weniger. Aber „age“ steckt darin, wenn man es Englisch ausspricht, das Zeitalter also, in dem wir leben, gelebt haben, vielleicht leben werden. Wenn die Apokalypse nicht dazwischenfunkt – denn der zweite Teil des Stücktitels bezieht sich umstandslos auf den Weltuntergang. „100 seconds to midnight“ ist der wenig hoffnungsvolle Stand der „doomsday clock“, einer symbolischen Uhr, die anzeigt, wie nah sich die Menschheit vor einer Katastrophe befindet. Fünf vor zwölf war es auf der doomsday clock zuletzt vor zehn Jahren.
Doch das „H“ zieht ab, die schwarze Fläche öffnet sich für einen hohen Spalt, gerade so viel, dass der Schauspieler Jens Harzer hineinpasst. Schwarzer Anzug, schwarze Handschuhe, weiß geschminktes Gesicht. Die sofortige Vertrautheit der Wilson-Ästhetik. Hinter ihm ein Raum aus gleißendem Licht. Ein Mensch vor der Unendlichkeit. „Ich denke, wir müssen von vorn anfangen“, sagt die Harzer-Figur. „Ach, wenn ich nichts anderes täte als Rosen zu zeichnen, vielleicht wird eine von ihnen zu mir sprechen.“ Das Licht ist derart hell, dass der schmale Leucht-Raum auch Minuten später noch als Schatten auf der Netzhaut bleibt.
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Bon Wilson bietet Publikum exakt definierte Landschaften an
Ein Großteil der enigmatischen, poetischen Textpartitur, für deren Zusammenstellung Thalia-Intendant Joachim Lux selbst die Dramaturgie übernommen hat, stammt von der libanesischen Autorin und Malerin Etel Adnan. Er möge es, im Theater Räume zum Denken zu finden, hatte Wilson vorab erklärt. Und tut genau das: seinem Publikum Räume anbieten, klare, millimeterscharfe, durch Schatten, Silhouetten, Posen exakt definierte Landschaften, in die mal dämonisch ein Gargoyle ragt oder ein Wolkenkratzer schräg versinkt.
Eine Folie aus Formen und Atmosphären, die an frühere Arbeiten wie „POEtry“ erinnern. Scheinbar streng und darin umso freier, spielerischer, zarter. „It is all a part of one piece“, sagt Barbara Nüsse. Es ist alles Teil eines Ganzen.
Virtuose, mal inbrünstig, mal ätherisch agierende Schauspieler
Zu dem gehört auch die Suggestivkraft der Musik, ebenso wie die sich hingebenden Betrachterinnen und Betrachter, die sich das kindliche Staunen mit dem stummfilmblassen Ensemble teilen dürfen. „And there is you, there is you, there is you...“ Die konzentrierten, virtuosen, mal inbrünstig, mal ätherisch agierenden Schauspieler – neben Harzer-Hawking und Nüsse sind es Marina Galic, Tim Porath und der auffallend präsente Ensembleneuzugang Pauline Renévier – ergänzen den Wilsonschen Kosmos um Wärme, Witz und Seele.
Bei aller Akribie der punktgenau arrangierten Körper lassen sie die Sätze immer wieder schweben, nicht final abschließen. „Das Quadrat ist die Leidenschaft des Kreises“ ist so eine Feststellung, über deren feine Ironie sich vortrefflich gedanklich mäandern lässt; ein weiterer Faden in zwei assoziationsreichen Stunden.
Bob Wilsons Stimme tönt durch das Thalia Theater
Immer wieder tönt Robert Wilsons eigene Stimme besonders theatral vom Band: „Is there a god? IS THERE A GOD?“ Und das ist natürlich ziemlich lustig, wenn der Schöpfer des Abends nach dem Schöpfer allen Seins fragt. „Was ist der Sinn und der Plan hinter all dem?“ Ja, das wüsste man doch manchmal gern von beiden. Zumal hier nicht weniger als „the meaning of life“ hochdramatisch verhandelt wird, der Fortbestand der Menschheit und so, Anfang und unausweichliches Ende aller Tage. Doomsday, der Countdown läuft.
Zugleich nimmt sich das Tableau, durch das Lucinda Childs auch die drei Tänzerinnen Yunseo Choi, Moe Gotoda und Ping-Cheng Wu schickt, in der eigenen stets aufs Neue behaupteten ultimativen Wucht gar nicht allzu ernst. Barbara Nüsse erinnert mindestens einmal stark an eine andere Rolle, die sie am selben Haus mit vergleichbar tiefschürfender Unbekümmertheit spielt: „Wenn man in ein schwarzes Loch fällt, ist das eindeutig Pech“, stellt sie fest. Pippi Langstrumpf hätte es kaum treffender formulieren können.
Big Bang Theory, die Bob Wilson zurück auf Thalia-Bühne führt
Zweimal bricht eine Art Zwischenspiel die Wirkmacht der epischen Bilder, die zum Ende hin (Wellen! Gischt!) durchaus Kitschbereitschaft erkennen lassen: Ein blutverschmierter Eisbär als ein (auch in seiner Originalität) abgekämpftes, wenig rätselhaftes Meme der längst stattfindenden globalen Katastrophe grüßt von der Videoleinwand. Wie heißt es an einer Stelle? „Das Leben wäre tragisch, wenn es nicht so lustig wäre."
Es ist, alles in allem, eine zauberhafte Big Bang Theory, die den fast 81 Jahre alten Bob Wilson nach all den Jahren zurück auf die Thalia-Bühne führt, auch wenn die abschließend servierte Botschaft dieser Zeitreise ein wenig zu offensichtlich daherkommt: „Bleibt neugierig, gestaltet die Zukunft!“ Nun ja, dagegen ist wenig zu sagen. Aber es ist eben auch ein Abschied, der hier zelebriert und mit Jubel und Standing Ovations gefeiert wird. Von einem großen Bühnenästheten und Weltenerfinder, der – jedenfalls in dieser Dimension – hier wohl das letzte Mal inszeniert hat.
„H – 100 seconds to midnight“, Thalia Theater, wieder am , Karten unter T. 328 14-444 und www.thalia-theater.de