Hamburg. Die Inszenierung am Thalia Gaußstraße ist eine vielschichtige Auseinandersetzung mit Aldous Huxleys Romanklassiker.

Wild wuchern die Grünpflanzen, ranken sich aus Kästen und großen, beweglichen Apparaturen in einer Art Gewächshaus. An diesen Ort irgendwo in der Zukunft gelangt John Savage (Johannes Hegemann), der Fremde, der Wilde aus der Außenwelt, aus dem Reservat einer überholten Zeit.

Die „Schöne neue Welt“, die der Regisseur und Autor Amir Reza Koohestani gemeinsam mit seinem Co-Autor Keyvan Sarreshteh nach – und dieser Zusatz ist hier wichtig – dem Romanklassiker von Aldous Huxley anlässlich der Premiere im Thalia in der Gaußstraße errichtet hat, sieht modern und verführerisch aus (Bühne: Mitra Nadjmabadi). Ein gigantischer Erlebnispark, den Phillip Hohenwarter und Benjamin Krieg mit ausgefeilten Video-Animationen versehen haben.

„Schöne neue Welt“ am Thalia: Fokus auf die Kernaussagen

Koohestani und Sarreshteh arbeiten in ihrer Überschreibung nun auf sehr feine Weise die Kernaussagen des Romans heraus. Und sparen in der Folge etliche Nebenfiguren und Seitenstränge der Handlung aus.

John Savage trifft hier auf Lenina Crowne (Pauline Rénevier), eine sexuell verfügbare Beta-Frau und geradezu musterhafte Vertreterin dieser ominösen Kastengesellschaft, deren Prinzipien sich erst nach und nach erschließen. Die Familie ist darin abgeschafft. Ebenso der Zeugungsakt. Ob man ein Alpha-, Beta- oder Gamma-Wesen ist, steht schon vor der Geburt fest. Liebe und Monogamie sind in diesem Konzept naturgemäß unerwünscht – es herrscht das Prinzip der fröhlichen Promiskuität, in der „jeder jedem gehört“.

Das höchste Ziel der Gesellschaft ist Stabilität um jeden Preis

John Savage, den Johannes Hegemann mit großer Intensität und festem Willen gibt, erweist sich als führungstauglicher Vertreter, als Alpha-Plus. Nun soll er zur Konformität konditioniert werden, doch er verliebt sich in die elegant-schlagfertige Lenina. Und steht damit nicht allein. Auch der von Stefan Stern gegebene Bernard Marx – als Führungsperson ist er ebenfalls ein Alpha-Plus, allerdings ist er körperlich wegen eines Fabrikationsfehlers unterentwickelt – hat ein Auge auf sie geworfen. Es entsteht eine unheilvolles Liebesdreieck, in dem Marx seine Macht ausspielt und den beiden anderen den Kontakt untersagt. Denn das hohe Ziel dieser Gesellschaft ist Stabilität um jeden Preis. Liebe stört da nur die Abläufe und den Frieden. Und auch in den Verlockungen der Kunst lauert nichts als Gefahr.

Um die Stabilität herzustellen, genügt eine erfolgreiche Konditionierung, den Rest erledigt die versprühte Glücks-Droge Soma. Man wird in diesem Wohlfühl-Staat ganz automatisch zufrieden und genügsam, eingelullt von einem quasireligiösen Versprechen. Und warum sollte eine Tätigkeit im satt begrünten Erlebnispark nicht erfüllend sein? So wie sie John Savage ausübt, der hier sein Wissen als Immigrant einbringt.

Huxley-Roman wurde mit großer Stringenz überschrieben

In der Welt, die er kannte, gab es aber auch die Kunst. Es gab Shakespeare. Und der bringt die scheinbar reibungslos funktionierende Ordnung mit seinen freien Gedanken durcheinander. Das ist besonders schön anzusehen beim Höhepunkt des Abends, wenn John Savage die wohl geformten Romeo-Sätze aus Shakespeares berühmtestem Liebesdrama vor Leninas vermeintlich leblos da liegender Julia rezitiert. Und auf einmal steht sie in Flammen, die „Schöne neue Welt“.

Der Autor und Regisseur Koohestani und sein Co-Autor Sarreshteh haben den Huxley-Roman mit großer Stringenz überschrieben. Die wesentlichen inhaltlichen Linien sind in ihrer klugen Adaption wie eine Folie sichtbar. Sie sind auch global lesbar. Denn natürlich schwingt bei dem iranischen Theatermacher Koohestani, der seit einigen Jahren auf europäischen Bühnen und bei allen großen Festivals gefragt ist, die Situation im Iran mit.

Das Verhalten eines Regimes, das seine Herrschaft mit brutaler Härte durchsetzt. Aber das Aufbegehren und der Freiheitswille des Volkes sind nicht zu unterschätzen. Auch nicht der subversive Charakter der Kunst, die am Ende vielleicht sogar das totalitäre System sprengen könnte.

„Schöne neue Welt“ in Hamburg: intelligent und unterhaltsam

All diese Gedanken stecken in Huxleys 1932 erschienenen Romanklassiker. „Theater! In der neuen Welt ist jede Kunstform eine Abweichung“, sagt Bernard an einer Stelle. Und er fährt fort: „Kunst beschäftigt sich mit Unglück. Wir haben die Hochkunst geopfert und den Preis gezahlt. Der Preis ist ein Leben ohne Glanz.“ Wenn der Zugang zu Büchern und Kunst für immer versperrt ist, wartet eben nicht ein großartiges „Glück“, sondern es lauern Verkümmerung, Ödnis und ein eintöniges Leben.

Die Szenerie überzeugt mit ihrem Pseudorealismus, betont durch mal leicht futuristische, mal alltägliche Kostüme (Gabriele Rupprecht). Das Spiel des ausgezeichneten Ensemble-Trios wirkt auf raffinierte Weise ungekünstelt, aber gleichzeitig konsequent doppelbödig. Alles zusammen formt einen ebenso intelligenten wie unterhaltsamen Abend, erweitert um starke Video- und Sound-Sequenzen.

Es könnte sein, dass Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ längst eine Form von überholtem Patriarchat darstellt. Der Autor jedenfalls erweist als zeitlos in seinem Anliegen, die uniformierende Diktatur, die jedoch stets ihre eigene Agenda verfolgt, mitsamt ihren Heilsversprechen zu entzaubern.

„Schöne neue Welt“ weitere Vorstellungen 6.2., 20 Uhr, 16.2., 20 Uhr, 5.3., 19 Uhr, Thalia in der Gaußstraße, Karten: thalia-theater.de