Hamburg. Sehenswertes Stück im Thalia Gaußstraße. Eine Schar liebenswerter Individuen stochert im Nebel nach einem Sinn. Findet sie ihn auch?

Alles ist Nebel. Unaufhörlich kriecht er über den Boden. Hüllt die gesamte Bühne des Thalia in der Gaußstraße ein, wabert über den verlassenen Spielplatz mit seinen reichlich trist und betonhaft wirkenden Monumenten früheren kindlichen Vergnügens.

Ein paar Menschen, pardon Avatare, sind schon da. Zum Beispiel eine Frau mit dem Namen Weltraum (Maike Knirsch), die minutenlang über die Gestalt einer Pflanze sinniert: „Pflanzen sind keine stillstehenden Objekte. Hier kann man das anschaulich erleben.“ Oder NewPollu (Julian Greis), der sich wie verrückt über seine schöne lockige Frisur freut. Andere, ungeliebte Teile seines Aussehens hat er abgeschnitten. Und fühlt sich nun „erfrischt“.

Theater Hamburg: „No Horizon“ ist eine Uraufführung im Thalia

In virtuellen Welten ist eben alles möglich. Man kann sich der eigenen Gestalt entledigen und in einer anderen Welt eine neue ausprobieren. Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht in der Uraufführung des neuen Theaterabends „No Horizon“ des japanischen Regisseurs Toshiki Okada.

Die Avatare beschwören in ihren Texten eine andere Realität als den vergessenen, vom funzeligen Licht einer Straßenlaterne müde beleuchteten Ort, der auf der von Dominic Huber gestalteten Bühne zu sehen ist. Von ihrem früheren Metaversum hatten sie aus unterschiedlichen Gründen genug und haben sich deshalb auf den Weg in ein anderes begeben. Der Name: No Horizon. Darin zählt vor allem eines, die Kraft der Imagination.

No Horizon – das Leben hier ist nicht auf Gewinnmaximierung ausgelegt

Hier kann also Maike Knirschs Weltraum mit zarten Gesten durch den Nebel fahrend über das Lebensrecht der Pflanzen sinnieren und über die Feinheit ihrer Bewegungen, die in dem früheren Metaversum nicht wahrgenommen wurden. Und Covfefe, gespielt von Felix Knopp, lässt seinen unruhigen Geist zur Ruhe kommen, während er auf einen See blickt. Die Freude an den einfachen, den kleinen Dingen, hier scheint sie möglich, denn das Leben in No Horizon ist nicht auf Gewinnmaximierung ausgelegt.

Der japanische Theatermacher Toshiki Okada interessiert sich in seiner Theaterarbeit seit jeher für den strauchelnden Menschen im postmodernen Zeitalter. Zwischen Sehnsüchten, Errungenschaften der Technik und der Unerbittlichkeit des wirtschaftlichen Systems. Wie schon in seiner letzten Arbeit, dem mit einer Einladung zum Theatertreffen geadelten furiosen Endzeitstück „Doughnuts“, übersetzt er seine von leiser Philosophie durchzogenen, verästelten Texte in eine ausufernde, ins Groteske gleitende Körperlichkeit. Da scheint Julian Greis imaginären Schleim zwischen seinen Händen zu bewegen. Maike Knirsch lässt ihre Finger in filigranen Gesten schweben. Steffen Siegmunds Kudodes wiederum hat sich ganz gegen ein körperliches Aussehen entschieden und formuliert ruckartige Bewegungen nah am Slapstick.

Theater Hamburg: Auf dem Spielplatz der Gedanken stellt sich die Sinnfrage

Die Sätze wirken gerade zu Anfang oft scheinbar einfach, verkünden mitunter geradezu banal erscheinende Wahrheiten, werden aber zunehmend mit Bedeutung aufgeladen. Es ist eine große Kunst, wie das spielfreudige Ensemble hier über diese pure Imagination zu glaubhaftem Spiel findet. Die Inszenierung allerdings braucht eine ganze Weile, um so etwas wie Dynamik zu entwickeln und Spannung zu erzeugen. In der ersten Hälfte wird sehr lang und mitunter auch langatmig gesprochen, während die Figuren ausführlich ihre kuriosen Namen und ihr gewähltes Erscheinungsbild präsentieren.

Dann aber stellt sich auf diesem Spielplatz der Gedanken die Sinnfrage. Und die hat mit einer Art göttlicher Instanz namens Kiuri zu tun. Verkörpert wird sie von Sylvana Seddig, die eigentlich primär Tänzerin und Choreografin ist und hier ein paar eindringliche Sätze platziert und mit sanften Bewegungen unterstreicht. Damit zieht sie jedoch für eine weitere Ebene ein, sorgt für Geheimnis und Spannung. Allerlei Mythen ranken sich um ihre Figur – auch die zerklüftete elektronische Musik soll sie komponiert haben – in Wirklichkeit stammt sie natürlich von Okadas langjährigem Kollaborateur Kazuhisa Uchihashi. Kiuri soll einen ominösen Leuchtturm an der Grenze von No Horizon bewohnen.

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Die Avatare auf der Bühne plagt ein Unbehagen und so machen sie sich bald auf die Suche nach der Gott gleichen Weltenlenkerin und damit auch nach einer Art Utopie. Maike Knirsch nimmt ein Pferd, Felix Knopp die Straßenbahn. Bald kriecht die Gruppe auf der Suche nach sinnhafter Erleuchtung durchs Klettergerüst wie durch einen Tunnel zwischen den Welten – und landet doch nur an ihrem Rand, wo sich ihr womöglich nur ein großes Nichts eröffnen wird.

Der Nebel ist einer der Hauptdarsteller in „No Horizon“ von Toshiki Okada.
Der Nebel ist einer der Hauptdarsteller in „No Horizon“ von Toshiki Okada. © © Studio Fabian Hammerl | Fabian Hammerl

Für Toshiki Okada ist das Theater – auf den Spuren von Antonin Artaud – per se immer eine virtuelle Realität und er liebt das Spiel mit den Wirklichkeits- und Wahrnehmungsebenen. Berührende Relevanz bekommt „No Horizon“ letztlich vor allem dadurch, dass hier eine Schar liebenswerter Individuen zur Gemeinschaft findet, während sie im Nebel nach einem Sinn stochert.

„No Horizon“ weitere Vorstellungen 4.12., 12.12., 23.12., 8.1., 17.1., jew. 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de