Hamburg. Düsteres Cello in St. Petri, Kreuzfahrt-Abgesang bei Hapag Lloyd, Rock-Oper im Thalia – das Programm hielt das Publikum stadtweit wach.
Oh, die Nacht. Ein Versprechen des Dunklen, Mystischen, der willkommenen Grenzüberschreitung. Ein Raum für Erfahrungen, die das Tageslicht eher scheuen. Ein Spektakel für Nachteulen ist das, was sich die Dramaturgie des Thalia Theaters da ausgedacht hat. „Hymnen an die Nacht“ locken die Besucher in mehreren Touren zu kleinen Theater- und Musikminiaturen an ungewohnte Orte in der Stadt.
Ein Wermutstropfen: Die Premiere der Oper „Der Sandmann“ von Anna Calvi und Robert Wilson musste wegen zweier Corona-Fälle im Thalia-Ensemble entfallen. Musikalisch wird es dann aber doch noch auf der großen Bühne am Alstertor. Doch dazu später mehr.
Theaterkritik: Nacht beginnt bei Tageslicht
Die Nacht nämlich beginnt noch bei Tageslicht – zum Beispiel in der Kunsthalle. Jirka Zett trägt einen leuchtend blauen, zu großen Anzug und streift als Museumswärter um eine schöne Skulptur im Erdgeschoss der Galerie der Gegenwart. Der vermeintlichen Ereignislosigkeit seines Berufes begegnet er, indem er akribisch Details der Besucher notiert. Inmitten der Installation gibt die Schauspielerin Rosa Thormeyer in einem Traum aus rosa Tüll erst ein stummes, erstarrtes Dornröschen, doch auf einmal wird sie sehr lebendig.
„Das ist hier keine rosige Situation… obwohl aus Rosen gemacht“, beschwert sie sich. Der Museumswärter will sie erlösen. Dass er sich längst in einen Prinzen verwandelt hat, erhöht seine Chancen nicht. Ein munterer Schlagabtausch über Identitäten und Geschlechterrollen beginnt. „Der Museumswärter unter der Wimper“ ist in der Regie von Sophie Luz Pahlke eine kluge, von feiner Ironie durchzogene Collage mit Auszügen aus Jelineks „Prinzessinnendramen“.
Bernd Grawert verwandelt sich in David Foster Wallace
Noch immer ist Hamburg taghell, als die Zuschauergruppe zu ihrer zweiten Station weiterzieht. Unter der erhabenen Kuppel-Architektur der Reederei-Kantine von Hapag Lloyd hat sich Bernd Grawert äußerlich ganz in den Autor David Foster Wallace verwandelt – inklusive Langhaar und Hawaii-Hemd. Erst einmal surrt der Kaffee-Automat, bevor er in die Tasten seines E-Pianos greift und Sätze aus Wallaces‘ Meisterwerk „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ zum Besten gibt.
Erinnerungen an eine Luxus-Kreuzfahrt werden lebendig. Obszöne Dekadenz wird konterkariert von Weisheiten über die Zeit und die sich stetig verkleinernden Wahlmöglichkeiten des Lebens. Unterstützt wird der herrlich grummelnde Grawert in seiner eigenen Regie vom Kammerchor „Klub Konsonanz“.
Zeit für „Songs from Sandmann“
Langsam senkt sich die Dämmerung über der Binnenalster. Und es wird Zeit für „Songs from Sandmann“. Die Bühne des Thalia Theaters verspricht schon jetzt eine schöne Ballszene aus E.T.A. Hoffmanns Schauermärchen, wenn die Oper „Der Sandmann“ in der Regie von Charlotte Sprenger hoffentlich noch in dieser Spielzeit zur Premiere gelangt. Mehrstöckige Torten und allerlei Weinflaschen sind aufgereiht. André Szymanski gibt den Kellner und befüllt Gläser. Auf einer kleinen Extra-Bühne spielt die barock gewandete Band schöne, düstere Neo-Blues-Songs der britischen Musikerin Anna Calvi, die sie zur Robert-Wilson-Oper beigesteuert hat.
Es bleibt leider bei einer etwas statischen Tischgesellschaft, in der meist im Sitzen gesungen wird. Die Regisseurin Charlotte Sprenger gesellt sich im Kostüm dazu. Vor allem Merlin Sandmeyer zeigt erneut, was für ein expressiver musikalischer Performer er ist. Das Gros der Songs gibt er mit lässiger Präsenz und Bowie-Perücke zum Besten.
Retro-Sound erinnert an Rock-Opern
Der künstlerische Leiter Philipp Plessmann intoniert einen sanften Retro-Sound, der mitunter an die Rock-Opern der 1970er-Jahre erinnert. „Surrender to it all“, singt das Ensemble im Chor. Und André Szymanski intoniert mit dramatischer Düsternis fast schon in Nick Cave-Manier zu donnernden Piano-Akkorden „Dream on, dream on“. Es fällt nicht schwer, sich dem nachtblauen Sog dieser Songs hinzugeben, ihren hymnischen, oft mehrstimmigen, feinen Arrangements. Und doch vermisst man Szenerie und Handlung der eigentlichen „Sandmann“-Oper umso schmerzlicher.
Den Verheißungen der „Late Night“ folgen bald vor allem jüngere Zuschauer. Und sie werden belohnt: etwa mit der erstaunlichen Performance-Kunst der jungen Schauspielerin Anna K. Seidel. In Lorenz Noltings sehr freier Büchner-Adaption „Woyzeck. Das schärfste Messer Deutschlands“ rattert sie den Text in beeindruckendem Schnellsprech herunter und schafft es, nebenbei zugleich ein Drama in einer Tönnies-Großschlachterei zu erzählen und dieses Handlungskonvolut auch noch mit der Kolonialgeschichte Mexikos zu verschneiden.
Theaterkritik: Kurz vor Mitternacht in die Kirche St. Petri
Inhaltlich wird die Performance damit zur erfrischenden Überstrapazierung des Textes, während Seidel nebenbei den Saal mit ihrer hohen Stimme weich spielt und verkündet: „Okay, ich muss kurz verschnaufen, aber ich geh wieder rein!“
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Eine Stunde vor Mitternacht geht es schließlich in die Kirche St. Petri, wo wohlige Dunkelheit und eine „Étude on a night trip“ warten. Thalia-Ensemblemitglied Felix Knopp liest vom Gang in die finsteren Welten zwischen den Lebenden und den Toten nach Dantes Commedia, immer wieder greift er zum Cello und erweitert das Ganze zu einer betörenden schwarzen Messe. Wenn sich am Schluss der Kammerchor auf der Bühne gruppiert und auch bei Dante wieder Licht und Leben herrschen, hat diese lange Hymnen-Nacht ihren versöhnlichen Abschluss gefunden.