Hamburg. 32 Etappen, kein bestimmtes Ziel: Der Pianist verwob bei seinem Recital im Kleinen Saal Kostbarkeiten von Schubert und Kurtág.

Schubert hat nicht nur seine berühmt-berüchtigten „himmlische Längen“, sondern auch viel kurzes Schönes geschrieben. Passt doch bestens, fand der Pianist Pierre-Laurent Aimard und kombinierte deswegen, als reizvollen Abschluss eines dreitägigen Themenschwerpünktchens in der Elbphilharmonie in Hamburg etliche Schubert-Kleinigkeiten mit vielen von György Kurtágs „Játékok“-Miniaturen. So inszenierte Aimard die Begegnung seelenverwandter eigenwilliger Künstlergemüter, die (sich) – obwohl etwa zwei Jahrhunderte voneinander entfernt – auch mit wenigen Noten viel zu sagen haben.

32 Etappen also und kein bestimmtes Ziel, eng und mitunter fließend miteinander verwoben, in diesem Recital im Kleinen Saal waren ein sehr spezielles Nischenrepertoire-Erlebnis. Ein knapp zweistündiges, pausenloses Hin und Her aus den Moment-Impressionen der beiden, sowohl launige Klischee-Vertonungen als auch eindeutige Format-Verweigerungen: einerseits ganz klassische Walzer, Ländler und Ecossaises aus dem damaligen Wienerwald und biedermeierlich aufgerüschte Gesellschaftstanz-Schablonen für den kleinen Schubert-Hunger zwischendurch, viele von ihnen mal eben für kleines Geld aufs Notenpapier geworfen. Eine Idee, eine Wiederholung, Schlusstakt, fertig, zahlen bitte.

Elbphilharmonie Hamburg: Wanderer zwischen zwei seelenverwandten Welten

Andererseits, als zeitgenössisches Kontrastprogramm, Kurtágs kryptische, abstrakte Kurz-Nachrichten aus seinem ganz eigenen Musik-Universum, mitunter nur halbminutenkurze Tagebucheintragungen, die vielen Sammelbände untertreibend als „Spiele“ überschrieben, mit Titeln, die als Chiffren für Geträumtes und Erlebtes dienen könnten. Es gibt Stückchen, in denen die Linke und die Rechte kurz ein kauziges Eigenleben führen dürfen. Andere nehmen sich einen eng begrenzten Bewegungsverlauf als Grundlage und spielen kurz damit herum. „Blumen die Menschen, nur Blumen …“ besteht aus gerade mal sieben Noten. Genügt. Mehr wäre ja nur weniger. Schubert und Kurtág haben jeweils Hunderte dieser Kleinformate geschrieben und ergänzten sich, als wäre dieser Notenbriefchen-Kurzroman von Anfang an für beide ein Plan gewesen.

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Der Reiz dieser Gegensätze auf kleinem Raum brauchte allerdings auch bei Aimard (ansonsten oft erster Pianist der Wahl für kräfteverbrennende Überlänge-Zyklen) selbst einige der ersten Episoden, um den beiden gegensätzlichen Perspektiven gerecht zu werden. Zunächst spielte er die Schubert-Petitessen allzu analytisch durchgeschärft und ging sie mit gestraffter Gutachterhärte prüfend an, anstatt sich in die kommod dahinzuhudelnde Dreivierteltakt-Ungenauigkeit zurückzulehnen, die auch bei einem sentimentalen Miniwalzer nie verkehrt ist.

Doch diese Attitüde legte sich, Aimard entspannte sich und lockerte die Klavierunterrichtsstrenge. Auch mal ganz schön, dieses unaufdringliche, terzenselige Hineinhorchen in Schuberts Zettelkasten. Denn die Balance wurde ja immer wieder, und immer wieder anders, durch Kurtágs Charakter-Stückchen hergestellt. Und weil dieser intellektuelle Spaß tatsächlich stundenlang hätte weitergehen können, hatte Aimard, so viel Hintersinn darf sein, als allerletzte Episode Kurtágs „Spiel mit dem Unendlichen“ platziert, als Abschieds-Fingerübung, die mit wenigen Tönen nur noch kurz durchs Bild weht und in Stille endet.