Hamburg. Ein Marathon in 32 Etappen: Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson spielte Bachs Goldberg-Variationen eindringlich und anrührend.

Noch einer also. Und sofort die Frage: Muss das sein? Nachdem zuletzt Lang Lang mit einer interessant ernsten Deutung prominent zeigte, was tatsächlich doch noch in ihm und seiner Schwäche für arg übertreibende Repertoire-Rasanz steckt, macht sich nun Víkingur Ólafsson, mit zweieinhalb Jahrzehnten Anlauf, auf den sehr öffentlichen Weg den Berg hinauf. Durch eine Aria und die 30 aus ihr entwachsenden Goldberg-Variationen hindurch, die Bach vor gut 280 Jahren „denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung“ in seine Welt fantasierte. Ganz anderer Charakter, ganz andere Perspektive.

Ein Riesenrätsel ist dieses Stück, praktisch keine Vorgaben und damit befreiend und fordernd zugleich, aber eine Basslinie, auf der mit mathematischer Strenge ein Kosmos aus Formwillen, Schönheit und Einfall aufgebaut wird. Immense Schwierigkeiten zuhauf, schon weil ein moderner Flügel keine zwei Manuale wie das seinerzeit von Bach adressierte Cembalo hat und sich die Hände deswegen in etlichen Variationen auf engstem Tastatur-Raum ins Gehege kommen müssen.

Goldberg-Variationen: Bach als Reifeprüfung in der Laeiszhalle

Eine Saison lang soll dieser Marathon ins Wie und Warum dauern, 88 Konzerte weltweit, nicht ganz der Beginn beim ProArte-Konzert in der Laeiszhalle und eindeutig das Wiedervorlage-Finale, gut acht Monate später, in der Elbphilharmonie, wie schön. Die selbst verordnete Messlatte für Durchdringung und Zufriedenheit könnte bei dieser sicher auch demütig machenden Pilgerreise deutlich niedriger hängen.

Das Feine und Faszinierende an diesem überzeugenden, aber nicht gänzlich überwältigenden Konzert (das erst zur Ruhe kam, nachdem alle, die es nicht lassen konnten, zur Einstimmung ihre Programmhefte fallen gelassen hatten): Schon mit den ersten sanften Melodiebögen der Aria kann man blind am Ton erkennen: Das kann nur dieser Isländer sein, der viele Komponisten aus vielen Epochen sehr nach sich selbst klingen lässt.

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Obwohl der Name trügerisch Richtung Oper weist, singt Ólafsson die erste Version dieser Aria zehnfingrig instrumental aus, klar, rund, schönheitsbewusst und schnörkellos und unschwer in ihrer respektvoll durchdachten Leichtigkeit. Am Ende des Abends wird dieser Wiederholung das Erlebte, das Genießerische und Verspielte der Tanzsätze, das flott Durchlittene der perlenden Brillanz und das tapfer Bewältigte der dunklen Kanons eindringlich und anrührend anzuhören sein. Es wird kein bloßes Da capo mehr sein, sondern ein bilanzierender, versöhnlicher Rückblick. Jede Note wird aber schon in diesem Auftakt ruhig und ernst, vergeistigt und selig genommen.

Ausgiebigstes, übersprudelndes Verzieren um des Verzierens willen – könnte man ja machen – ist bereits hier Ólafsssons Sache nicht, diese freiwillige Selbstkontrolle wird sich durch den ganzen Abend ziehen. Das Ganze ist vordergründig weniger historisch informiert als philosophisch durchleuchtet und befragt. Auch die Tanzrhythmen tänzeln mehr, als dass sie bis zum jeweiligen Anschlag ausgereizt werden.

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Und bei aller Freude über diese geschmeidig freigelegten Vielschichtigkeiten gibt es im Verlauf der 30 Variationen immer wieder Sätze, in denen das Virtuose das Notwendige allzu schnittig links überholt – fast, als wollte Ólafsson mit seiner stupenden Technik und Fingerfertigkeit angeben (was er nun wirklich weder nötig hätte noch bewusst praktiziert), so eilt und übereilt er damit durch die engmaschigen Stimmverführungen. Auf der Strecke bleibt dann die Durchhörbarkeit, die ansonsten doch so stark, uneitel und unexzentrisch alles in der Spur hält. Der jeweilige Grundpuls der Musik verschwimmt ins Ungefähre, anstatt Halt und Richtung zu bewahren.

Goldberg-Variationen: Riesiger Beifall und stehende Ovationen

Und noch etwas fällt auf: je Moll, desto Romantik, sehr grobkörnig gebündelt. Denn in den introvertierten Momenten, insbesondere in der 25. Variation, transzendiert Ólafsson das barocke Material in etwas anderes, das in dieser Ausformung erst viel später einen Platz auf der pianistischen Gefühldarstellungsskala haben soll. Dann wird es finster und einsam und gottverlassen und ist schon näher am Weltschmerz-Grübler Schubert als noch am Kontrapunkt-Feinmechaniker Bach.

Volle Konzentration auf die Musik: Víkingur Ólafsson auf der Konzertbühne
Volle Konzentration auf die Musik: Víkingur Ólafsson auf der Konzertbühne © Sebastian Madej | Sebastian Madej

Ólafsson nutzt damit die Freiräume, die diese Musik als Möglichkeit anbietet, er verabschiedet sich aber auch noch weiter ins Individuelle, weg aus der darstellenden Interpreten-Aufgabe. Das große Quodlibet, prunkvoll aufgefächert, stolz und mit Klang-Wucht von Ólafsson zum Leuchten gebracht, ist der Vorbote des Endes: Die Aria, bekannt und doch neu, geläutert und gereift. Riesiger Beifall und Standing Ovations, nicht nur für die reine Fleißarbeit, sondern für die Einladung, diese Musik fühlend mitzudenken. In knapp einem Dreivierteljahr wird sich in der Elbphilharmonie weisen, ob und wie dieser Blick auf Bach dann ganz anders sein wird.

Aktuelle CD: „Goldberg Variations“ (DG, CD ca. 20 Euro, 2 LPs ca. 47 Euro). Am 25. Juni 2024 spielt Ólafsson die Goldberg-Variationen in der Elbphilharmonie: Nächste Variation dieses Themas: 4.12., Elbphilharmonie, Kl. Saal, mit Jean Rondeau (Cembalo), www.elbphilharmonie.de