Hamburg. Markus Stenz dirigierte die Beckett-Oper in der Elbphilharmonie. Ein Meisterwerk – was etliche nicht davon abhielt, mittendrin zu gehen.

Den riesigen Unterschied zwischen „zaudern“ und „zaubern“ verursacht nur ein einziger kleiner Buchstabe. Im Lebenswerk des ungarischen Komponisten György Kurtág, der in einer Liga mit seinen Landsleuten Bartók und Ligeti zu hören ist, liegt beides ähnlich nah nebeneinander und macht den Faszinationssog dieser einsiedlerkrebsartigen Wohlklang-Verweigerungen aus.

Kurtágs Oper „Fin de partie“ in der Elbphilharmonie: Aus, aus … Das Spiel ist aus

Samuel Becketts surrealer Theaterklassiker „Endspiel“ war für den greisen Einzelgänger, der ansonsten seine musikalischen Spekulationen gern à la Webern zu Kürzest-Stücken komprimiert, zur späten Lebensaufgabe geworden: Mit 84 hatte er, nach jahrelangem Drängen der Auftraggeber, die Arbeit begonnen. Mit 92, 2018 in der Mailänder Scala, folgte die Uraufführung dieses pausenlosen Zweistünders, der sofort als epochales, spätes, noch nicht zu spätes Meisterwerk galt. Und nun also, leider nur konzertant und mit minimalistischen szenischen Mitteln versehen, in der Elbphilharmonie.

Drei von vier herausragend guten Stimmen der Mailänder Premiere und deren extrem aufmerksam gestaltender Dirigent Markus Stenz am Pult des ungarischen Danubia Orchestra sorgten für fast ideale Kenntnis und Durchdringung des höchst empfindlichen Materials; sie alle sind in dieser sonderbar schönen Musik so vertraut zu Hause, dass absolut kein Fremdeln und erst recht keine Anstrengung hörbar waren. Frode Olsen als Hamm war ein Ereignis, Hilary Summers als nörgelnde Nell und Leonardo Cortellazzi als ihr quengelnder Gatte Nagg jeweils eine Wucht.

Das hielt etliche im Publikum nicht davon ab, im Verlauf der Vorstellung mittendrin den Großen Saal zu verlassen (einige von ihnen gingen womöglich aber auch, weil ihnen in manchen oberen Rängen offenbar die Sicht auf die eingeblendete Übersetzung durch die Scheinwerferhängung blockiert war).

„Fin de partie“ in der Elbphilharmonie: Mit absurdem Gerede wird dem ersehnten Aus entgegengetrudelt

Alle anderen waren und blieben gespannt, still und gebannt von der konsequent sinnbefreiten Geschichte um Nagg und Nell, Clov und Hamm. Versehrt und verstört sind sie alle, die hier mit ihrem absurden Gerede über nichts und die Welt dem ersehnten Aus entgegentrudeln. „Es ist zu Ende, Clov, wir sind am Ende.“ – „Das trifft sich gut.“

Nagg und Nell hausen und brabbeln in (hier leider nur aufgemalten) Mülltonnen wie später Oscar in der „Sesamstraße“, Hamm, ihr Sohn, ist blind und im gemeinsamen Wohnzimmer-Knast, den eine Leinwandprojektion andeutet, an den Rollstuhl gefesselt, sein reichlich nutzloser Diener Clov hinkt und kann nicht mehr sitzen. Und alle können sich nicht mehr ausstehen, bis fast alle verenden.

Hillary Summers sang ihren Prolog als Nell in einem Rang des Großen Saals der Elbphilharmonie.
Hillary Summers sang ihren Prolog als Nell in einem Rang des Großen Saals der Elbphilharmonie. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

Kurtágs Tonwelt dafür ist eine dunkle, leise, von Brüchen und Verzweiflung durchzogene. Nichts fließt hier, die Musik stockt immer wieder, geradezu genial synchronisiert mit dem Wortverlauf des Un-Sinns des Texts. Vier Halbschattengewächse parlieren lakonisch Dinge vor sich hin, vage an das Schlafwandeln in Debussys ähnlich poetisch verrätselter Oper „Pélleas et Mélisande“ erinnernd.

Markus Stenz beim Schlussapplaus. Er hatte bereits die Uraufführung von Kurtágs „Fin de partie“ 2018 an der Mailänder Scala dirigiert.
Markus Stenz beim Schlussapplaus. Er hatte bereits die Uraufführung von Kurtágs „Fin de partie“ 2018 an der Mailänder Scala dirigiert. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

Großartig, wie feinfühlig und behutsam Kurtág bei der Vertonung dieses lethargischen Durcheinanders mit dem groß bestückten Orchesterapparat umgeht, in dem die tieferen Register dominieren, neben viel Schlagwerk, einem stark gedämpften Klavier, Akkordeon und Zimbal für folkloristische Glanzlichterchen. Denn nie erlaubte sich Kurtág als allmächtiger Schöpfergeist, die vorhandenen Möglichkeiten auch voll auszureizen.

Als stünde Kurtág vor einem Gewürzregal mit streng zu rationierenden Zutaten

Als stünde er vor einem delikat gefüllten Gewürzregal mit streng zu rationierenden Zutaten, so beschränkte er sich wieder und wieder höchst diszipliniert und pathosfrei auf kurze Andeutungen und kleine Prisen, auf etwas von diesem oder jenem, um dem kreisenden Stillstand der Szene Grundierung und bei der Vertonung jedes einzelnen Worts immer nur das punktgenau Allernötigste an Effekt und Charakterzeichnung zu gewähren.

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Und nachdem dann alles in sich zusammengefallen ist, verabschiedet sich Kurtág mit einem instrumentalen Epilog aus diesem Stück, der wie sein eigener vorweggenommener Abschied vom Diesseits mit einem Nebelhauch ausklingt.

Nächstes Kurtág-Konzert: 15.10., 19.30 Uhr: Pierre-Laurent Aimard (Klavier) spielt Kurtágs „Játékok“, verschränkt mit Petitessen von Schubert. Elbphilharmonie, Kleiner Saal, Restkarten