Hamburg. György Kurtágs Oper „Fin de Partie“ wird in der Elbphilharmonie aufgeführt. Ein Gespräch mit dem 97 Jahre alten Komponisten über letzte Dinge.
Als Puccinis Opern-Hit „Turandot” 1926 an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde, war György Kurtág schon zwei Monate auf der Welt. Inzwischen ist er 97 Jahre alt und eine bewunderte Ausnahmegestalt der europäischen Musikgeschichte.
Zeitlebens war er eng mit dem Komponisten György Ligeti befreundet. 1947 heiratete Kurtág die Pianistin Márta Kinsker, sie war die Liebe seines Lebens und auch seine wichtigste Partnerin beim Erschaffen und Erforschen von Musik, bis zu ihrem Tod 2019. Kurtágs Musik ist aufs Wesentliche konzentriert und nie geschwätzig oder gar lang nur um der Länge willen, jedes Stück hat sich dieser Filigrankünstler mühsam und langwierig vom Herzen abgerungen.
Erst mit 84 Jahren begann Kurtág 2010 die konkrete Arbeit an seiner ersten, etwa zweistündigen Oper „Fin de Partie“, beruhend auf Samuel Becketts „Endspiel“. 1957, kurz nach der Uraufführung, hatte Kurtág das Drama in Paris gesehen. 2018, nach mehreren Vertagungen und der Verlegung von Zürich nach Salzburg, fand die Premiere seines späten Solitärs statt – an der Mailänder Scala, wie 1926 die der „Turandot“. Am 14. Oktober wird „Fin de Partie“ halbszenisch in der Elbphilharmonie zu erleben sein, dirigiert von Markus Stenz, der 2018 die Uraufführung geleitet hatte. Ein Gespräch mit dem Komponisten, der in Budapest lebt.
Hamburger Abendblatt: Ihren Humor hätte ich gern: Auf die Partitur von „Fin de Partie“ sollen Sie „Versione non definitiva“ geschrieben haben.
György Kurtág: Eigentlich wollte ich bis zum Ende meines Lebens weiter daran arbeiten, aber dann ist meine Márta gestorben, und seitdem kann ich nicht mehr. Sie saß mit mir zwei Jahre lang jeden Tag am Klavier, ich nannte sie meinen „Musen-Gendarm“. Dann musste ich arbeiten.
Komponist György Kurtág: Endspiel mit Beckett
Wie war es für Sie, die letzte Note für diese Komposition nach all den Jahren gedanklicher Vorarbeit und konkreter Arbeit tatsächlich aufs Papier zu bringen?
Ich wollte weiter, doch Márta sagte, jetzt reicht es. In einem Akt wird es zu viel sein. Und es war wahr. Aber es fehlen sehr wichtige Szenen, zum Beispiel alle Szenen mit dem Hund.
Haben Sie durch Ihre Arbeit mit diesem Text Becketts groteskes Stück verstanden, oder ist es immer noch – oder erst recht – ein Rätsel für Sie?
Es blieben sehr wenige Rätsel für mich. Meine Arbeit zielte darauf, dass ich versuche, alles darzustellen. Auch was hinter dem Text liegt. Wenn man meine Partitur gut singt, hat man noch nichts gemacht. Es soll so sein, wie man die „Poppea“ von Monteverdi oder Mussorgskys „Chowanschtschina“ darstellen sollte. Dort soll man jedes Wort sehr klar, jeden Satz und die Syntax und auch das verstehen, was dahintersteckt.
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Und haben Sie während der Arbeit an „Fin de Partie“ gemerkt, wie viel Freude die Beschäftigung mit diesem Genre macht.
Gar nicht, gar nicht. Ich habe sieben Jahre daran gearbeitet und die ersten zwei Jahre waren nur dafür da, die Eigenschaften der französischen Sprache zu meistern.
Also war es kein Vergnügen?
Wenn es keinen Spaß gemacht hätte, wäre ich nicht sieben Jahre dabeigeblieben. Ursprünglich wollte ich nur drei kurze Stücke vom Beckett vertonen: „Footfalls“, „Rockaby“ und „Play“. Aus Zürich habe ich die erste Bestellung für diese Stücke bekommen, doch dann habe ich gedacht, dass ich lieber „Fin de Partie“ nehme. Das erste Stück, das ich von Beckett gesehen habe. Es hat mich sehr beeindruckt.
Zu welchen Tricks hat Ihr Auftraggeber Alexander Pereira, der damals noch Intendant in Zürich war, gegriffen, damit Sie auch wirklich fertig werden?
Wenn er nicht darauf bestanden hätte, hätte ich es nicht geschrieben.
Andere Komponisten suchen nach Schönheit. Ich glaube, dass Sie nach Wahrheit suchen.
Ja, das ist eine gute Formulierung.
Komponist György Kurtág: “Ich kann kein Stück liegen lassen“
War es für die halbszenische Aufführung in der Elbphilharmonie eine Bedingung von Ihnen, dass Markus Stenz dirigiert, weil Sie das Stück sonst niemandem anvertrauen würden?
Auf jeden Fall wollte ich, dass es jemand sei, der den Text wirklich gut versteht. Mit Markus Stenz haben wir nach der Uraufführung in Mailand noch sehr viel vor der Pariser Vorstellung gearbeitet. Und alle, die es in Paris und in Mailand gehört hatten, haben gesagt, dass es in Paris viel besser war.
Bei der Uraufführung in Mailand konnten Sie nicht dabei sein. Gibt es eine Chance, dass Sie zu der Aufführung nach Hamburg kommen?
Nein, ich kann nicht mehr. Mich interessiert es eigentlich nicht. Mich interessiert die Arbeit daran. Wenn ich nur einmal mit den Sängern arbeiten könnte, wäre ich sehr glücklich. Pereira hatte mir damals vorgeschlagen, dass er mir ein Flugzeug schickt. Damals lebte Márta noch. Ich habe ihm gesagt, ich akzeptiere es nur, wenn er garantiert, dass wir zusammen herabstürzen und zusammen sterben werden. Seit jetzt vier Jahren muss ich ohne Márta leben.
Ein O-Ton von Ihnen: „Für mich ist eine Komposition nie beendet, ich brauche immer ein nächstes Mal.“ Das klingt, als ob Sie kein Stück stehen lassen können, das eigentlich fertig ist.
Nein, ich kann es nicht liegen lassen. Für jede Aufführung, die ich kontrolliere, bearbeite ich noch einiges, um es dem neuen Interpreten näherzubringen.
Ihr Kollege Helmut Lachenmann – ein Jahrzehnt jünger als Sie – hat mir einmal gesagt: „Komponieren ist Glück, ist Angst, ist Abenteuer, Begeisterung, Einsamkeit und für mich Inhalt meines Daseins.“
Ja, das ist beinahe, als hätte ich es formuliert.
Komponist György Kurtág: Endspiel mit Beckett
Gegen Sie war der Schönberg-Schüler Anton Webern – gut vier Jahrzehnte vor Ihnen geboren – in seinen knapp gehaltenen Stücken geradezu geschwätzig. Wenn Sie sich so gerne so kurz fassen, wieso dann ausgerechnet eine Oper, die fast zwei Stunden dauert?
Ja, aber jede Szene dauert nicht so lange. Beckett ist meine Idealvorstellung von Konzentration.
Angeblich vertonen Sie gerade einen Text von Christoph Hein über die kleine Stechardin, die junge, früh verstorbene Geliebte des Physikers Georg Christoph Lichtenberg. Eine zweite Oper ist also in Arbeit?
Es ist eigentlich ein einziger Riesenmonolog. Die Szene spielt im Jenseits, und sie wartet dort auf den gerade gestorbenen Lichtenberg.
Fällt Ihnen die Arbeit jetzt leichter, weil Sie wissen, dass Sie auch Oper „können“, oder ist es wieder genauso schwer wie bei der Beckett-Vertonung?
Es ist immer schwer, aber wenn man es mit Begeisterung macht, muss man abwarten, bis man die beste Lösung findet.
Schreiben Sie an mehreren Stücken gleichzeitig oder konzentrieren Sie sich immer auf eine Komposition?
Eigentlich nur eine.
Und stimmt es, dass Sie jetzt auch noch den Rest von „Fin de Partie“ vertonen wollen?
Ja.
Was bedeutet Musik Ihnen jetzt, mit 97, im Vergleich zu früher? Musik wächst mit einem, begleitet einen durchs Leben … Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.
Sie ist mir sehr wichtig. Streichquartett zu unterrichten ist mir noch immer das größte Glück, später Beethoven und die Bartók-Quartette.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Gar nicht, gar nicht. Ich wünsche es mir. Dann kann ich endlich neben Márta liegen.
„Fin de Partie“. 14. Oktober, 20 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal. Konzert: 13.10. 20 Uhr: NDR Elbphilharmonie Orchester, Nils Mönkemeyer (Viola), Mathias Pintscher (Dirigent): Kurtágs „Stele“ und „Petite musique sollenelle“ u. a. 15.10. 19.30 Elbphilharmonie, Kl. Saal: Pierre-Laurent Aimard (Klavier): Werke von Kurtág und Schubert. Aufnahmen: „Játékok“ György & Márta Kurtág, Klavier (ECM New Series, CD ca. 20 Euro). „Kafka-Fragmente“ Anna Prohaska (Sopran), Isabelle Faust (Geige) (harmonia mundi, CD ca. 20 Euro)