Hamburg. Anrührendes Konzert von Appl, Apkalna, Levickis. Nur die Schnellapplaudierer im Publikum hätten der Stille gern mehr Raum geben dürfen.
Angenommen, man könnte das Überraschungspotenzial eines Konzerts mit maximal zehn Punkten bewerten. Dann hätte dieser Abend elf bis zwölf verdient. Und zwar nicht nur, weil Benjamin Appl seinen ersten Einsatz – ein hübscher, kleiner Schockeffekt – von links oben aus den Zuschauerrängen sang und dann rund um den halben Saal bis zur Bühne herabstieg. Sondern vor allem, weil Appl, Iveta Apkalna und Martynas Levickis ihr Publikum in der Elbphilharmonie mit einer Fülle neuer Eindrücke fesselten.
Ein Programm für Bariton, Orgel und Akkordeon auszuhecken: Das ist schon eine sehr spezielle Idee. Die beiden Instrumente kommen aus unterschiedlichen Welten – und dann auch wieder nicht, weil ihre Töne ganz ähnlich per Luftzufuhr erzeugt werden. Das macht sich der finnische Komponist Veli Kujala zunutze. In seinem Stück „Photon“ zündet er Klangwirbel, die das eine Instrument losschmeißt und das andere auffängt, als würden zwei Geschwister herumtollen. Am Ende verwandelt er sie in musikalische Zwillinge, wenn er ihre Sounds angleicht und man sich fragt: Wer spielt da eigentlich gerade?
Elbphilharmonie: Iveta Apkalna inszeniert an der Orgel Klänge von apokalyptischer Wucht
Eine prima Entdeckung, dieses Stück, phänomenal interpretiert. Ebenso wie die anderen Solowerke des Abends. In Lionel Roggs „La femme et le dragon“ inszeniert Iveta Apkalna an der Orgel Klänge von apokalyptischer Wucht, lässt gleißende Farben abstürzen und den Saal wummern. Herrlich, die Vibrationen vom 32-Fuß-Register. Zwerchfellmassage!
Ganz anders die Akkordeonstücke, die Martynas Levickis mitgebracht hatte. In Arne Nordheims „Flashing“ schillert und zwitschert das Instrument, scheint aber auch manchmal fast zu bellen. Und in der Etüde Nr. 6 von Philip Glass groovt das Akkordeon fluffig. Das wäre die Single-Auskopplung des Abends.
Elbphilharmonie: Die Schnellapplaudierer im Publikum hätten der Stille gerne mehr Raum geben dürfen
Eigentlich hat Glass seine Etüde für Klavier geschrieben. Doch unter den flinken Händen von Levickis – toller Typ – wirkte sie wie fürs Akkordeon konzipiert. Auch sonst lebte das Programm vom Mix aus Originalwerken und feinen, teilweise ganz erstaunlichen Arrangements. Die Bach-Arie „Ich habe genug“ aus der gleichnamigen Kantate mit Orgel anstelle eines Orchesters zu begleiten, ist ein naheliegender Gedanke. Aber die Eingangsfanfare von Monteverdis Marienvesper auf Orgel und Akkordeon zu schmettern?
Und später Schuberts Lied „Der Tod und das Mädchen“ in diese Farben zu tauchen? Ein starkes Stück. Das ist natürlich nichts für Puristen. Und trotzdem total stimmig. Benjamin Appl führt seinen edlen Bariton kultiviert und flexibel. Strahlend bei Monteverdi, gedeckt bei Schubert. Und wohlig warm in Dowlands Renaissancelied „Flow my tears“, „Fließt, meine Tränen“. Der Signature-Song britischer Melancholie, eigentlich von einer Laute umzupft, hier aber ins Seufzen des Akkordeons gebettet.
Martynas Levickis begleitet so sanft, dass Appl noch fahler, noch schlichter hätte gestalten können. Und die Schnellapplaudierer im Publikum hätten der Stille gerne auch noch mehr Raum geben dürfen.
Überhaupt sollten wir bei der Gelegenheit noch mal übers Klatschen reden. Das ist ja grundsätzlich eine schöne Geste. Und ein Geräusch, das wahrscheinlich niemand im Saal missen möchte. Es passt bloß nicht immer. Und wenn Benjamin Appl vor dem letzten Konzertteil ansagt, dass er den Block mit Liedern gerne ohne Unterbrechung singen würde – dann wäre es eigentlich angebracht, das auch zu respektieren. Oder?
Publikum: Da wäre mehr Sensibilität vonseiten der Klatsch-Ultras angebracht
Es geht überhaupt nicht darum, auf alten Verhaltensregeln zu beharren. Manchmal provoziert ein Stück ja geradezu den Applaus. Gar kein Problem, auch nicht zwischen den Sätzen. Aber in kleinteiligen Programmen und intimen Momenten kann der Klatschlaut auch Spannungsbögen und Stimmungen zerstören. Und das muss ja nicht sein. Erst recht nicht, wenn die Interpreten ihren Wunsch klar artikulieren. Wie Appl, mit seiner Ansage, wie Iveta Apkalna, die einmal die Hände hebt, um den Zwischenapplaus abzuwehren. Oder wie beim Liederabend von Lucile Richardot am Montag, in dessen Programmheft die Bitte notiert ist, nicht zwischen den einzelnen Liedern zu applaudieren. Da wäre mehr Sensibilität vonseiten der Klatsch-Ultras angebracht. Gegenüber der Musik und den Interpreten, aber auch gegenüber ihrem Mit-Publikum und sich selbst. So ein hartes Geräusch kann viel kaputtmachen.
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Aber natürlich kein ganzes Konzert. Der Gesamteindruck ist stark genug. Nach den Liedern aus ihren Heimatländern Lettland, Litauen und Deutschland – besonders anrührend: „Der Mond ist aufgegangen“ – gehen Appl, Apkalna und Levickis einzeln von der Bühne ab, lassen eine litauische Volksliedmelodie langsam ausklingen. Die leise Schlusspointe eines Abends voller Überraschungen.