Hamburg. Seit 50 Jahren prägt John Neumeier Hamburg als Ballettstadt. Und das „Hamburger Abendblatt“ begleitet ihn dabei.

Was sich wohl August Everding erhofft hatte, als er John Neumeier 1973 als Ballettdirektor an die Hamburgische Staatsoper holte? Vielleicht, dass der damals 34-Jährige frischen Wind ans Dammtor bringen würde. Aber dass mit Neumeier die Hansestadt zu einer der ersten Adressen in der Tanzwelt avancieren würde, auf Augenhöhe mit Paris und New York, das konnte man nicht ahnen. Auch nicht, dass von Hamburg aus wichtige Impulse fürs Ballett ausgehen würden, die die Tanzästhetik nachhaltig verändern würden. Dass heute der Begriff „Neoklassik“ untrennbar mit Hamburg verbunden sein würde (obwohl das die Leistung anderer bedeutender Choreografen wie Hans Van Manen unterschlägt). Und vor allem nicht, dass Neumeier eine ganze Ära in Hamburg prägen wurde: Seit 50 Jahren leitet er das Ballett der Stadt, wahrscheinlich ist weltweit kein Intendant so lange auf seinem Posten wie der heute 84-Jährige.

Womöglich dachte sich Everding, der im gleichen Jahr von den Münchner Kammerspielen als Intendant an die Staatsoper gewechselt war und einen neuen Ballettdirektor brauchte: „Neumeier, der wird das schon ein paar Jahre machen. Der ist jung, 1939 in Milwaukee geboren, der ist formbar, der hat schon erste Leitungserfahrung.“ Mindestanforderungen.

John Neumeier in Hamburg: Damals war das Ballett noch ein Seitenstrang der Oper

1973 war die Situation des Tanzes noch eine andere als heute. Damals war das Ballett fast im gesamten deutschsprachigen Raum dem Musiktheater angegliedert, keine eigenständige Kunst, sondern ein Seitenstrang der Oper – auch in Hamburg war das so, deswegen konnte Opernintendant Everding auch eigenmächtig über die Neubesetzung entscheiden, ohne dass die Kulturbehörde sich einmischte. Die große Ausnahme von dieser Regel war Stuttgart: Dort hatte sich Ballettdirektor John Cranko von 1961 bis zu seinem Tod 1973 ein hohes Maß an Eigenständigkeit erkämpft und konnte so seine Vision eines zeitgenössischen Literaturballetts entwerfen. Und von 1963 an war Neumeier bei Cranko in Stuttgart als Tänzer engagiert.

Entsprechend durfte man schon annehmen, dass der Neuzugang sich nicht darauf beschränken würde, ausschließlich schmückendes Beiwerk für Opernproduktionen zu choreografieren. Zumal Neumeier nach seiner aktiven Tänzerzeit erst einmal als Ballettdirektor nach Frankfurt gegangen war, auch das damals nicht gerade der Nabel der Tanzwelt, aber ein Ort, an dem sich ein junger Künstler erst einmal in einer Leitungsposition ausprobieren konnte. Vier Jahre lang, dann kam der Ruf nach Hamburg.

Neumeiers Antritt „Meine wichtigste Aufgabe ist es, zuerst genügend Arbeit für euch zu finden“

Wenn man sich die Liebe anschaut, mit der die Hansestadt Neumeier, ihren Ehrenbürger, heute überschüttet, kann man sich gar nicht vorstellen, dass der Start 1973 gar nicht so einfach war. Denn: Der neue Ballettchef kam mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes, der das Stuttgarter Ballettwunder unter Cranko miterlebt hatte, mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes, der die Ballettprovinz Frankfurt aus dem Dornröschenschlaf erweckt hatte. Zudem stellte er schon in seiner Antrittsrede vor der Compagnie klar, dass er Lust auf die Konfrontation mit dem Opernbetrieb hatte: „Meine wichtigste Aufgabe ist es, zuerst genügend Arbeit für euch zu finden, denn: Ein Tänzer ist nur einer, wenn er tanzt, und ich glaube, der glücklichste Tänzer ist der müdeste.“

Das war keine künstlerische Vision, das war die Vision eines Chefs, der die Arbeitsbedingungen seiner Mitarbeiter verbessern möchte, und zwar um den Preis, dass um die Bühne des Opernhauses konkurriert werden würde. Spätestens jetzt war klar: Mit dem wird es nicht einfach. Streit mit der Oper ging er nie aus dem Weg, bis auf seine Initiative das Ballett 1996 aus der Oper ausgegliedert wurde. Seither fungiert er als Intendant und kann eigenständig entscheiden.

Abendblatt-Autor war hingerissen. Und mit ihm bald der Rest der Stadt

Schnell verschuf der künstlerische Erfolg Neumeier Oberwasser. Das bemerkte auch das Hamburger Abendblatt: „John Neumeier kommt aus einer anderen Welt“, schrieb Rudolf Maack im Januar 1974 über die erste Hamburger Premiere „Romeo und Julia“. „Ihm geht Wahrheit vor Schönheit des Ausdrucks. Er gibt seiner eigenen Erschütterung sichtbare Gestalt. Er rollt ein Tanzdrama auf, dessen Lebenskraft und -fülle unmittelbar in den Bann schlägt und in seinen Höhepunkten den Atem stocken lässt.“ Dass Maack seinem Artikel die Überschrift „Überwältigendes Tanztheater“ gab, war zwar gattungstheoretisch nicht ganz korrekt – Tanztheater im engeren Sinne machte Neumeier nie –, zeigt aber, wie hingerissen der Autor war. Und mit ihm bald der Rest Hamburgs.

John Neumeier bei einer Ballettprobe im Mai 2013.
John Neumeier bei einer Ballettprobe im Mai 2013. © picture alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Angelika Warmuth

Wobei der Begriff „Tanztheater“ auf seine Weise schon passte: „Romeo und Julia“, das war Theater mit den Mitteln des Tanzes. Keine harmlose Märchenerzählung, wie man es aus populären Balletten wie „Giselle“ oder „Der Nussknacker“ kannte, kein dekoratives Ornament, sondern Shakespeares tragische Liebesgeschichte, für die die Choreografie ganz eigene, schonungslose, leidenschaftliche Bilder fand. Im Grunde machte Neumeier im Ballett das, was das moderne Regietheater mit dem Schauspiel machte: Er nahm einen klassischen Stoff, überlegte, was dieser mit der Gegenwart zu tun hatte und erzählte ihn mit eigenen Mitteln nach. Dass seine Arbeiten bis heute oft von der Literatur ausgehen, hat auch damit zu tun, dass Neumeier vor seiner Tanzkarriere englische Literatur und Theaterwissenschaft in Milwaukee studiert hatte – der weiß, wie man einen Text lesen muss, und er weiß auch, was für eine Fülle an Ideen die Literatur für das Theater bereithält. Und diese Ideen kann er mit den Mitteln des klassischen Balletts optimal umsetzen.

Neumeier: Auch das klassische Ballettrepertoire wurde in Hamburg gepflegt

Natürlich choreografierte er im Laufe der Jahre nicht nur zu Theatertexten, auch das klassische Ballettrepertoire wurde in Hamburg gepflegt: „Dornröschen“ von 1978 etwa, vor einem Jahr in einer runderneuerten Fassung wiederaufgeführt. „Schwanensee“ gab es 1976 in einer Traumvariante „Illusionen – wie Schwanensee“, „Sacre“ und „Nussknacker“ hatte er schon in Frankfurt realisiert. Es gab biografische Ballette, die sich an Künstlerpersönlichkeiten abarbeiteten, herausgehoben „Nijinsky“ aus dem Jahr 2000, über Vaslav Nijinsky, den Erneuerer des russischen Balletts, der vielleicht zeitlebens der wichtigste Einfluss auf Neumeier war. Es gab sinfonische Ballette, die vom tiefen Verständnis des Choreografen für die Musik zeugen (und von seiner kollegialen Zusammenarbeit mit den jeweiligen Dirigenten).

Als sein Ziel formulierte Neumeier 1993 im Hamburger Abendblatt, ein „klassisches Ballett-Ensemble des 20. und 21. Jahrhunderts zu leiten, um das klassische Erbe zu wahren, ohne einem falschen Traditionalismus zu huldigen“. Neumeier war ein Neuerer, ohne ein Bilderstürmer zu sein, ein Konservativer, ohne ein Reaktionär zu sein. Und vielleicht passt er deswegen so gut nach Hamburg.

John Neumeier hat der Stadt in 50 Jahren seinen Stempel aufgedrückt

John Neumeier mit seinem Mann Hermann Reichenspurner.
John Neumeier mit seinem Mann Hermann Reichenspurner. © MARCELO HERNANDEZ / FUNKE Foto Services | Foto: Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Seit 50 Jahren lebt und arbeitet er hier, er hat geheiratet (den Herzchirurgen Hermann Reichenspurner), er wurde Ehrenbürger, er ist eins mit der Stadt geworden (auch wenn er sich lange nicht besonders in ihr auskannte) und hat der Stadt seinen Stempel aufgedrückt – nicht nur mit seiner Kunst, auch mit der Ballettschule, dem Bundesjugendballett, der Stiftung John Neumeier und seiner international anerkannten Sammlung von Ballett-Devotionalien. Nicht jedes in dieser Zeit entstandene Stück war ein Meisterwerk, aber es fällt auf, dass es tatsächlich nie ein echtes Debakel gab. Jedes Jahr kamen auf hohem Niveau neue Choreografien zur Premiere, wurden alte neu gedacht und überarbeitet. Noch ein Jahr Arbeit liegt vor ihm, im Februar wird es die Wiederaufnahme der 1995 uraufgeführten „Odyssee“ geben, Ende Juni als letzten Gruß die Premiere „Finale“, dann ist Neumeiers Ära in Hamburg vollendet. Ab Sommer 2024 wird Demis Volpi die Leitung des Balletts übernehmen, auch der jung, mit Stuttgart-Vergangenheit und ersten Leitungserfahrungen (beim Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg).


Neumeier hat zwischendurch auch andernorts choreografiert, in San Francisco, in Toronto, in Kopenhagen. Am Festspielhaus Baden-Baden gibt es sogar ein eigenes Festival für ihn, „The World Of John Neumeier“. Immer wieder habe er mit dem Gedanken gespielt, wegzugehen, ein Vertrag als Direktor des Wiener Staatballett sei unterschriftsreif gewesen, erzählte er 2017 im Abendblatt. Und wurde dann doch nicht unterschrieben, weil Hamburg die Mittel für den Bau des Ballettzentrums bereitstellte. Da konnte Neumeier seine Popularität schon in die Waagschale werfen, um Forderungen durchzusetzen.

Nein, leicht war es nicht immer mit ihm. Aber es ist zweifellos jedesmal schön.