Hamburg. Stürmischer Applaus für Ida Praetorius: Die neue Erste Solistin des Hamburg Balletts reüssiert strahlend, einnehmend und glanzvoll.

Mit einem Blitz und einem Donnerschlag geht es los. Ida Praetorius steht in einem weißen Kleid vor dunklem Wald, bevor sie langsam in den Hintergrund zurückschreitet. Ein Auftritt mit Wow-Effekt. Die neue Erste Solistin in John Neumeiers Hamburg Ballett reüssiert bei ihrem Debüt so strahlend, einnehmend und glanzvoll, so schwebend leicht und feinnervig, dass ihr der Saal der Hamburgischen Staatsoper schon bald zu Füßen liegt. Und das gleich in einer technisch höchst anspruchsvollen Rolle.

Hamburg Ballett-Chef John Neumeier legt nach 14 Jahren eine Neuchoreografie des Märchenballett-Klassikers „Dornröschen“ vor, den er vor 40 Jahren uraufführte. Das Tempo ist gesteigert, etliche Szenen sind neu choreografiert. Auch Ausstatter Jürgen Rose hat noch einmal Hand an Bühne und Kostüme angelegt und etwa runde Bögen am Schlossturm geschaffen.

Hamburg Ballett zeigt Neufassung von "Dornröschen"

Im Tanz begegnen sich zur festlichen Musik von Peter Iljitsch Tschaikowski, wunderbar geboten vom Philharmonischen Staatsorchester unter Markus Lehtinen, die rekonstruierte traditionelle Choreografie nach Marius Petipa und die neue Choreografie von John Neumeier. Sie fügen sich zu einem erstaunlich geschlossenen Gesamtbild.

Dies zeigt sich schon beim Prolog im Wald. Alexandr Trusch trägt als Prinz Désiré Jeans und Hemd inmitten seiner Jägersfreunde. Einen Moment allein, begegnet er einer dunklen Macht, genannt Der Dorn, maliziös und feingliedrig im hautfarbenen Einteiler getanzt von Matias Oberlin, der hier einen seiner bislang ausdrucksstärksten Auftritte hinlegt. Außerdem trifft er auf Die Rose, getanzt von der unvergleichlich elfenhaften Hélène Bouchet.

Sie wird zu einer Art guten Fee, die den Prinzen durch die Geschichte geleitet. Bouchet absolviert hier einen ihrer letzten Auftritte mit dem Hamburg Ballett, das sie auf eigenen Wunsch nach über 20 Jahren zum Jahresende verlässt. Durch eine Art Tor im Blätterwald steigt der Prinz in die uns allen aus Kindertagen bekannte Märchen-Geschichte ein.

„Dornröschen“ in Hamburg: Sternenballett begeistert

Die im späten 19. Jahrhundert angesiedelten Schloss-Szenen entfalten sich im ersten Teil noch recht gemächlich vor einer hübsch geschwungenen Treppe. Ein wahres Fest für Romantiker. Edvin Revazov und Anna Laudere, sonst abonniert auf Hauptrollen, geben hier mit angenehmer Zurückhaltung das Paar aus König Florestan XXIV. und seiner Königin. Sie ahnen nicht, dass ihre lang ersehnte Tochter Aurora kurz nach der Geburt schon von dem Dorn verflucht wurde, der des Nachts mit seinem illustren Gefolge einem Spiegel entsteigt. Tänzerisch ist da viel Zeitgenössisches zu erkennen. Bodenfiguren, ausladende Arme, fließende Bewegungen. „Dornröschen“ lebt aber natürlich auch von den schmucken Tableaus des Corps de Ballett und der höfischen Eleganz etwa bei der Tauffeier.

Höhepunkt ist der Auftritt des Sternenballettes „Triumph der Morgenröte“. Hier begeistern ausgewiesene Solistinnen und Solisten der Compagnie in pastellfarbenen Kostümen mit eindrucksvollen Pas de Deux. Mal schwungvoll und temporeich wie bei Madoka Sugai und Jacopo Bellussi. Mal athletisch wie bei Christopher Evans und Xue Lin.

Erste Solist Christopher Evans brilliert

Der Erste Solist Christopher Evans brilliert ebenfalls in der beliebten Rolle des Hoftanzmeisters Catalabutte nicht nur mit außergewöhnlich hoher Sprungfertigkeit. Er zeigt sich in der Rolle des selbstverliebten Egozentrikers auch von seiner komödiantischen Seite. Die heranwachsende Aurora nimmt ihn bei gemeinsamen Grand Pliés an der Stange mit Streichen aufs Korn und lässt sich auch das Lesen nicht verbieten.

Höhepunkt vor der Pause ist das Rosenfest zu Auroras 16. Geburtstag. Hier treten die Mächte der Unterwelt als Prinzen ferner Länder auf, die verhängnisvoll dornige Rose im Gepäck. Instinktiv verschmäht sie Ida Praetorius’ Aurora. Doch am Ende sticht sie sich doch daran. Dank des Eingreifens von Bouchets Rose stirbt sie nicht, sinkt jedoch in Ohnmacht. Alexandr Truschs zwischen den Zeiten wandelnder Prinz ist noch zur Rolle des unsichtbaren Zuschauers verdammt.

John Neumeiers Choreografie ist tief berührend

Zu Beginn des stärkeren zweiten Teils ist er fröhlich im Kreise seiner Jagdfreunde zu sehen, die sich munter die Bierflaschen zuwerfen und beeindruckend virtuos übereinander rollen, aufeinander steigen und gekonnt zu Boden gehen. In einer Vision begegnet er Aurora, die immer wieder auch Alltagskleidung trägt, und ihn im Kreise von wunderbar anmutigen Schatten-Tänzerinnen bezaubert. Virtuose Pirouetten beherrscht sie ebenso wie minutenlang gehaltene Positionen. Begleitet von Bouchets Rose bricht der Prinz auf, sie zu suchen und zu retten.

Wunderbar düster türmt sich der Dornenwald in Grau- und Blautönen auf. Schließlich findet Trusch das überwucherte Schloss und die schlafende Prinzessin. Ein Gongschlag, die Violinen zittern, ein Kuss und der Saal hält den Atem an. Wie dann Praetorius und Trusch auf zarteste Weise zueinanderfinden, die ehemals eigensinnige Prinzessin im Angesicht von Alleinsein und Zerstörung reift, ist tief berührend. Hier dringt John Neumeier zum Kern seiner Choreografie vor, die eigentlich vom Zauber der Liebe inmitten einer dunklen Wirklichkeit handelt.

"Dornröschen" in Hamburg: Dänischer Ballett-Star präsentiert ganzes Können

Bei der abschließenden Hochzeit präsentieren Ida Praetorius und Alexandr Trusch noch einmal ihr ganzes Können – er mit Ausdruck, Rasanz, Tempo und Sprungstärke, sie mit Grazie, Akkuratesse und vielen Pirouetten. Doch die zarten, innigen Szenen, sind wahrhaftig die intensivsten dieser Neuinszenierung. Und wer weiß, vielleicht war ja alles nur ein wild-schöner Traum, wie es die Schluss-Szene suggeriert. Das Ballett wird in den kommenden Wochen von insgesamt drei attraktiven Besetzungen getanzt. Und Hamburg hat einen – weiteren – neuen Stern am Ballett-Himmel: Ida Praetorius.

„Dornröschen“, Dezember-Vorstellungen ausverkauft, Restkarten gibt es für 6.1., 7.1., 10.1., 13.1., 15.1.2022, jew. 19 Uhr, 9.1., 18 Uhr, Staatsoper, unter T. 35 68 68; www.hamburgballett.de