Mit verschwenderischem Reichtum an tänzerischen Eingebungen, mit seelischem Tiefgang und packender Dramatik riß John Neumeier das Publikum schon auf offener Szene zu Bewunderung und Begeisterungsausbrüchen hin als theatersicherer Dramaturg, als gestailtungskräftiger Choreograph und ? nach der Erkrankung Truman Finneys ? obendrein als Tänzer.

Hatte er in der Hauptprobe noch am Regiepult gesessen, so sprang er zur Generalprobe auf die Bühne und schwang sich mit dem Romeo in die Reihe der Gro- ßen hinauf. Die Vergleiche liegen in Hamburg nahe: die vornehme Eleganz Rainer Köchermanns als Romeo wie als Mercutio, die beseelte Julia von Christa Kempf, mit der sie sich in van Dyks noblem Ballett verabschiedete.

John Neumeier kommt aus einer anderen Welt. Ihm geht Wahrheit vor Schönheit des Ausdrucks, er will nioht Erhebung, sondern Erschütterung. Er gibt seiner eigenen Erschütterung sichtbare Gestalt. Er rollt ein Tanzdraima auf, dessen Lebenskraft und -fülle unmittelbar in Bann schlägt und in seinen Höhepunkten den Atem stocken läßt.

Dabei wird Prokofieffs in Form und Stil vielseitige Musik über sich selbst hinausgehoben und Crankos Choreographie, in der Neumeier einst den Grafen Paris tanzte, beiseite gelassen. Wir erleben eine Neugeburt aus dem Geist von Shakespeares frühester Tragödie. Liebe und Tod in schicksalhafter Verkettung, Liebe als Blitz im Dunkel, Tod als der Liebe Preis, ? das hat Neumeier ?entflammt und durch ihn seine Tänzer. Mit sicherer Hand flicht er die Stränge des Geschehens und preßt es auf vier Tage zusammen. Er füllt die Bühne bis zum Bersten mit turbulenter Bewegung, und er läßt leeren Raum um die beiden Liebenden schwingen. Er umgaukelt ? wie Shakespeare ? die Schrecknisse mit Mummenschanz und bringt dazu noch eine Wanderbühne ins Spiel, die die tragische Ironie drastisch vordeutet.

Alles das wird in dramatischem Tanz eingefangen, der sich zwanglos aller Stille, vom klassischen über den Ausdruckstanz bis zum Schachspiel, bedient und seine Bannkraft aus der natürlichen Bewegung bezieht. Das Rasen der Verzweiflung und die lähmende Erstarrung sind so natürlich wie die zarten Gebärden der Liebenden, aus denen sich die großen, kunstvollen Gebilde des Zweitanzes mit ihren kühnen Hebungen und Verschlingunigen entwickeln. Alles ist echt, von den tolpatschi" gen Schritten der kindlichen Julia bis zu ihrem Niederstürzen bei Romeos jähem Absohied. Und alles ist gestaltet, in den jagenden Volks- und Fechtszenen wie in der Stille des Blicktausches oder der sehnenden Erinnerung.

Marianne Kruuses herzbewegende Julia und John Neumeiers hingerissener und hinreißender Romeo brennen von der ersten Begegnung bis zur letzten tödlichen Verbindung in auswegloser Leidenschaft, die der kleinsten Geste wie dem mächtigsten Aufschwung höchste Spannung verleiht. Beatrice Cordua wirft sieb als Gräfin Capulet in wilder Verzweiflung über den erstochenen Tybalt (Fred Howald), an dem Romeo den Tod seines Freundes Mercutio rächte, den Max Midinet gespenstisch austanzt. Der noble Francois Klaus als Prinz Paris, die stolze Rosa Sicart als Rosalinde ? eine Überfülle an Einzelleistungen, aus denen sich das polyphone und polychrome Werk zum Meisterwerk zusammenfügt ? vor den ruhigen Flächen und in den farbenleuchtenden Kostümen, die Filippo Sanjust den Fresken von Arezzo entlieh.

Zu Recht reihte sich der Dirigent Hanspeter Seibel in die Schar der Tänzer, die vom Haus enthusiastisch gefeiert wurden, allen voran das großartige Paar, dessen intensive Ausstrahlung das ganze Werk durchglühte ? Marianne Kruuse und John Neumeier.