Hamburg. Besuch einer Buchhandlung als demütigende Erfahrung? Annette Mingels gelingt mit ihrem Roman „Der letzte Liebende“ ein starkes Porträt.

Er hat es nicht leicht mit der Gegenwart, der alte weiße Mann. Zumal in der Literatur (dafür hätte ihm schon ein Blick auf die Longlist des Deutschen Buchpreises genügt). Nicht einmal als alternde Professoren-Romanfigur kann man noch ungestört in Melancholie schwelgen oder unbehelligt am eigenen letzten Aufbäumen verzweifeln, daran, für die jungen oder wenigstens die mitteljungen Frauen zu entflammen zum Beispiel. Ihren Protagonisten Carl Kruger jedenfalls, eine amerikanische Ostküsten-Figur wie aus einer Philipp-Roth-Story, lässt die Autorin Annette Mingels ordentlich leiden. „Der letzte Liebende“ heißt ihr jüngster Roman (soeben erschienen bei Penguin), und er spielt, wo die deutsche Schriftstellerin selbst eine Weile gelebt hat: im pittoresken US-Städtchen Montclair in New Jersey.

Annette Mingels: „Der letzte Liebende“, 304 Seiten, 24 Euro
Annette Mingels: „Der letzte Liebende“, 304 Seiten, 24 Euro © Penguin Random House

„Alt, klapprig, kurz vorm Exitus“, beschreibt der emeritierte Chemie-Professor sich darin selbst verbittert. Gern hätte Carl Kruger einfach weitergemacht, es lief doch alles gut. Für ihn jedenfalls. Seine Vorlesungen waren beliebt („Kult“), die Studentinnen verfügbar. „In seiner Wahrnehmung waren es die Frauen, diese unergründlichen, liebesbegabten Wesen, die sich ihm immer wieder überraschend freigebig zuwandten, während ihm keine andere Wahl blieb, als sich von ihnen in jede gewünschte Richtung lenken zu lassen.“

Annette Mingels: Der Besuch einer Lesung als demütigende Erfahrung

Aber wer weiß, ob er es bei Roth wirklich besser gehabt hätte. Auch männliche Autoren können gnadenlos sein: Krugers ehemaliger Uni-Kollege, der ihm eines Tages ankündigt, ebenfalls zu schreiben (und zwar ambitioniert, wie er betont: „Literatur-Literatur. Nicht irgendwelche Genre-Sachen“), hat ausgerechnet Carl zum Hauptakteur seines Debüts auserkoren. Weshalb dessen Besuch einer Buchhandlungslesung zur demütigenden Erfahrung wird, in der sich die nun also doppelte Romanfigur Carl (eine hübsche Spiegelung hat sich Mingels da überlegt) aus dem Publikum heraus die Bemerkung nicht verkneifen kann: „Viele junge Frauen fühlen sich zu älteren Männern hingezogen.“ Kommt bei den Zuhörerinnen vor Ort weniger gut an, sogar seine ehemalige Geliebte hat nur Spott für ihn übrig. Schlimmer noch: Er scheint ihr gleichgültig.

Überhaupt ist Carl, der mit seinem arglosen Narzissmus doch bislang eigentlich ganz gut durchs privilegierte Leben gesurft war, mit zahlreichen Perspektivwechseln und Versäumnissen konfrontiert. Seine Frau Helen, die sowohl der Krebs als auch die Verachtung für den stabil untreuen Ehemann irgendwann innerlich zerfressen hat, muss er zu Grabe tragen. Aber wie trauert ein Witwer, dessen Ehe gar keinen Bestand mehr gehabt, der – noch als seine Frau todkrank war – auf einer anderen Ebene der zweistöckigen Wohnung gelebt hatte? Auch sein Verhältnis zu Adoptivtochter Lisa, Verbündete der Mutter, ist bestenfalls von spöttischer Resignation geprägt, und die Verbindungen zur Vergangenheit, zur eigenen Herkunft hatte der deutsche Auswanderer Carl seit Langem gekappt.

Der alte weiße Mann: „herzzerreißend, größenwahnsinnig und tröstlich“

Dennoch macht er sich ausgerechnet mit Lisa und ihrem Sohn, seinem Enkel, auf die Reise zu seinen Wurzeln, zu den Brüdern nach Ostdeutschland und nach Polen. Verschiedene Lebenswirklichkeiten prallen dort aufeinander, unterschiedliche Generationen, vielgestaltige Unversöhnlichkeiten. Carl flüchtet in einen Fatalismus, den er immerhin selbst als „abwechselnd herzzerreißend, größenwahnsinnig und tröstlich“ erkennt: „Manchmal schien es ihm ganz und gar nicht unmöglich, dass sein eigenes Ende mit dem der Welt zusammenfallen würde.“

Mingels gelingt es, „ihren“ alten, weißen Mann, diesen taktlosen, vielleicht sogar rücksichtslosen „letzten Liebenden“, einerseits schonungslos, andererseits doch auch zugewandt zu porträtieren. Sie formuliert fein, beobachtend, sehr präzise. Sie liefert ihn nicht aus, aber sie spricht ihn auch nicht frei. Die Autorin hat sich für seine Sicht entschieden, für sein Staunen, wo sie auch durch die Augen der Tochter oder der Frau hätte erzählen können. Die Tatsache aber, dass eben sie es ist, die durch ihn so genau, so differenziert über allerorts wegbrechende Gewissheiten spricht – das ist schon eine sehr gelungene Aneignung.