Hamburg. Bürgermeister setzt auf Polizeipräsenz rund um den Hauptbahnhof. Macht er das Thema im Wahlkampf groß? SPD-Trauma wirkt nach.
Ein Gespenst geht um im Rathaus…, nein, nicht das Gespenst des Kommunismus, wie Karl Marx und Friedrich Engels einst im Kommunistischen Manifest zu frohlocken meinten. Was vor allem den regierenden Sozialdemokraten und Grünen erhebliche Sorgen bereitet und manche in Alarmstimmung versetzt, ist die drohende Wiederkehr eines altbekannten, bei Rot-Grün ausgesprochen ungeliebten Themas: die innere Sicherheit und Kriminalitätsbelastung in der Metropole Hamburg. Der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) rechnet bereits damit, dass die Sicherheitsdebatte eine wichtige Rolle im Bürgerschaftswahlkampf 2025 spielen wird.
Der Hauptbahnhof, immer wieder der Hauptbahnhof und sein Umfeld: Gewaltdelikte, blutige Streitereien und Raube verunsichern Passanten und Passagiere. Verelendung und Verwahrlosung sind nicht zu übersehen: Die Zahl der Drogenabhängigen und Obdachlosen rund um den Verkehrsknotenpunkt mit 550.000 Besuchern pro Tag ist gestiegen. Die Situation im August-Bebel-Park vor dem Drogenraum Drob Inn ist belastend. Die offene Drogenszene ist ausgerechnet dort sehr sichtbar, wo täglich Zigtausende vorbeigehen und -fahren.
Kriminalität Hamburg: Vor 20 Jahren führte offene Drogenszene zu erregter Debatte
Offene Drogenszene am Hauptbahnhof? Da war doch was. Die Situation gleicht in der Tat einem Déjà-vu, und das treibt nicht nur die rot-grünen Politikstrategen um. Vor mehr als 20 Jahren waren die Zustände im Zentrum der Stadt Gegenstand einer erregten öffentlichen Debatte: Junkies setzten sich in aller Öffentlichkeit Spritzen, Dealer sorgten für Nachschub, und die Beschaffungskriminalität hatte mit Wohnungseinbrüchen und Autoaufbrüchen längst die bürgerlichen Stadtteile erreicht und für Verunsicherung gesorgt. Vielen drängte sich der Eindruck auf: Die Stadt bekommt die Probleme nicht in den Griff.
Zur Wahrheit gehört, dass sich die Drogenszene damals weiter als heute in Richtung St. Georg und vor allem rund um den Hansaplatz ausbreitete. Auch im Schanzenpark und im Schanzenviertel wurde gedealt und wurden illegale Drogen konsumiert. Damals regierte ebenfalls eine rot-grüne Koalition – mit dem Ersten Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) an der Spitze. Lange ließ Rot-Grün die Sache laufen, hinzu kamen spektakuläre Verbrechen wie der Dabelstein-Mord, die das subjektive Sicherheitsgefühl stark beeinträchtigten: Zwei Jugendliche erstachen im Juni 1998 den Lebensmittelhändler Willi Dabelstein in seinem Laden in Tonndorf.
Olaf Scholz versuchte als Innensenator, die Probleme in den Griff zu bekommen
Ein gewisser Ronald Barnabas Schill heizte das politische Klima an und gründete die Partei Rechtsstaatlicher Offensive, kurz Schill-Partei. Der SPD drohte plötzlich nach 44 Jahren der Machtverlust. Fünf Monate vor der Bürgerschaftswahl 2001 zog Runde die Notbremse und entließ den glücklosen Innensenator Hartmuth Wrocklage (SPD). Nachfolger wurde der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz, der damals sein erstes Regierungsamt antrat. Der Sozialdemokrat fackelte nicht lange und versuchte, nicht zuletzt die Sicherheitsprobleme rund um den Hauptbahnhof mit repressiver Sicherheitspolitik in den Griff zu bekommen.
Beispielhaft für den Law-and-Order-Kurs des SPD-Politikers („Ich bin liberal, aber nicht doof!“) steht der von ihm verfügte, höchst umstrittene Einsatz von Brechmitteln bei Drogendealern. In der Hoffnung, sich bei einer Razzia dem polizeilichen Zugriff zu entziehen, schluckten Dealer die in Zellophanbeutel verpackten Drogen herunter. Die gesundheitlich riskante Verabreichung von Brechmitteln zur Beweissicherung stieß beim grünen Koalitionspartner und linken Sozialdemokraten auf erheblichen Widerstand.
Trauma einer verfehlten Sicherheitspolitik wirkt in der SPD immer noch nach
Am Ende half es nichts. Rot-Grün wurde abgewählt, die Koalition aus CDU, Schill-Partei und FDP mit Ole von Beust (CDU) als Erstem Bürgermeister kam ans Ruder. Das Trauma einer verfehlten, zu zögerlichen Sicherheitspolitik wirkt vor allem in der Hamburger SPD selbst mehr als 20 Jahre noch nach, auch wenn sie nicht der einzige Grund für den Machtverlust war. Die SPD brauchte lange, um sich von dem Sturz in die Opposition zu erholen, und daran hatte wiederum Olaf Scholz entscheidenden Anteil. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Konsequenz aus dem Debakel lautete für die SPD, in ihrer Politik nie wieder Zweifel an der Priorität der inneren Sicherheit aufkommen zu lassen. Tschentscher erinnerte in dieser Woche nicht zufällig daran, dass Rot-Grün seit 2018 rund 500 zusätzliche Stellen bei der Polizei geschaffen hat. Und: Der erste SPD-Innensenator nach der Rückkehr an die Macht 2011, Michael Neumann, wie auch sein Nachfolger Andy Grote stehen für eine gewisse „Sheriff“-Mentalität im engen Schulterschluss mit dem Polizeiapparat.
Gesamtzahl der Straftaten ist nach Phase des Rückgangs wieder gestiegen
Lange ist die SPD mit dem Kurs ganz gut gefahren. Abgesehen von furchtbaren Einzelfällen wie dem Amoklauf mit acht Toten bei einer Veranstaltung der Zeugen Jehovas im März dieses Jahres in Alsterdorf oder individuellen Fehltritten Grotes geriet die innere Sicherheit nicht übermäßig in die Schlagzeilen. Und die Kriminalitätsstatistik war positiv, weil die Zahl der registrierten Straftaten über mehrere Jahre rückläufig war. Derzeit ist die Kriminalitätsbelastung so hoch wie zuletzt 1980.
Aber der Wind dreht sich. Die Gesamtzahl der Straftaten stieg schon 2022 gegenüber dem Vorjahr, und in den ersten fünf Monaten dieses Jahres war der Zuwachs exponentiell, vor allem im problembelasteten Bezirk Hamburg-Mitte. Besorgniserregend ist auch die Zahl von 96 Drogentoten im vergangenen Jahr. Knapp mehr mit 101 Menschen waren es zuletzt 2001. Kokain und Crack spielen eine große Rolle, Heroin ist wieder auf dem Vormarsch.
Bürgermeister Peter Tschentscher setzt beim Hauptbahnhof auf mehr Polizeipräsenz
„Die Kriminalitätsentwicklung in Hamburg ist ein ernstes Problem“, sagte Tschentscher in dieser Woche in Kamera und Mikrofon des NDR. Es ist lange her, dass man einen solchen Satz von einem Hamburger Bürgermeister gehört hat. Und der SPD-Politiker machte deutlich, dass er im Bereich der inneren Sicherheit auf repressive Konzepte setzt. Es werde mehr Polizeipräsenz rund um den Hauptbahnhof geben und mehr Personal. Insgesamt 28 Beamte und Angestellte im Außendienst verstärken die Streifen. Seit Anfang des Jahres bestreift die „Allianz sicherer Hauptbahnhof“ mit Beamten der Bundespolizei, der DB-Sicherheit, der Hochbahnwache und der Hamburger Polizei das Gebäude täglich gemeinsam.
„Wir müssen konsequenter vorgehen“, sagt Tschentscher. Anders als Ende der 1990er-Jahre regt das in der Hamburger SPD niemanden mehr auf. Der linke, polizeikritische Flügel der Partei existiert praktisch nicht mehr. Und auch bei den Grünen gibt es Verständnis für das repressive Vorgehen. „Es ist grundsätzlich richtig, dass bei mehr Kriminalität auch mehr Polizei zum Einsatz kommen muss“, sagt Jennifer Jasberg, Grünen-Fraktionsvorsitzende in der Bürgerschaft.
Bezirk Mitte will Straßensozialarbeit in Richtung Bahnhof ausweiten
„Andererseits ist Verelendung und Obdachlosigkeit kein krimineller Akt. Deswegen brauchen wir auch sozialpolitische Antworten auf die Probleme“, so Jasberg. Die Sozialbehörde weist auf die „breite Angebotspalette“ hin, mit der die Lage Obdachloser und Suchtkranker angegangen werde. Im Zentrum steht das Drob Inn, dessen Vorplatz wie berichtet aufwendig instand gesetzt wird. Dabei geht es auch darum, einen gewissen Halteeffekt zu erzeugen, um zu verhindern, dass die Junkies in angrenzende Straßenzüge und Stadtteile ausweichen.
Viele Drogenabhängige haben keinen festen Wohnsitz und leben auf der Straße. „Erfreulich ist, dass das neue, zusätzliche Angebot der Tagesaufenthaltsstätte Spaldingstraße sehr gut angenommen wird und spürbar zu einer Entlastung vor Ort beiträgt“, sagt eine Sprecherin der Sozialbehörde. Möglicherweise soll das bis Ende des Jahres befristete Angebot dauerhaft verlängert werden. Mehr Präsenz vor Ort soll es nicht nur bei der Polizei, sondern auch bei den Hilfsangeboten geben: Das Bezirksamt Mitte wird seine Straßensozialarbeit von der kommenden Woche an vom Hansaplatz auf die Umgebung des Hauptbahnhofs ausweiten.
Gefahr ist, dass emotional geführte Debatte populistisch instrumentalisiert wird
„Wir ducken uns nicht weg. Wir sprechen die Themen an“, sagte Tschentscher in dieser Woche. Sicher: Jeder Versuch, die Entwicklung der Kriminalität kleinzureden oder gar zu tabuisieren, wäre töricht und erinnerte an 2001. Doch der Bürgermeister hebt die Diskussion über die innere Sicherheit mit seinem forschen Vorgehen erst recht auf die politische Agenda. Die Gefahr ist, dass die stets emotional geführte Debatte über tatsächliche und gefühlte Sicherheit noch mehr populistisch instrumentalisiert wird.
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Wie Ende der 1990er-Jahre mit der Schill-Partei gibt es auch jetzt mit den Rechtspopulisten der AfD wieder eine Partei rechts der CDU, mit dem neu gegründeten „Bündnis Deutschland“ sogar zwei. Das setzt die Union unter Druck, und der Ton in der Bürgerschaft ist schon jetzt bisweilen recht rau. CDU-Oppositionschef Dennis Thering sieht Hamburg bereits „auf dem Weg zur Verbrechenshauptstadt“, was dann doch eine recht weitreichende Interpretation der Sicherheitslage ist.
Kriminalität Hamburg: CDU wollte Schills Aufstieg mit Law-and-Order-Sprüchen verhindern
Vor mehr als 20 Jahren versuchte der liberale Ole von Beust mit seinem „Sicherheitsberater“ Roger Kusch, dem späteren Justizsenator, und dessen markigen „Law and Order“-Sprüchen, den Aufstieg Schills zu verhindern. Das misslang bekanntlich. Die Schill-Partei kam auf sensationelle 19,4 Prozent, und die CDU fuhr mit 26,2 Prozent ihr bis dahin zweitschlechtestes Ergebnis ein. Heute wäre es ein großer Erfolg.
Nun sind Schill-Partei und AfD mit ihrem rechtsextremistischen Potenzial nicht direkt vergleichbar. Dennoch ist die bürgerliche CDU in einer Zwickmühle. Allzu schrille Töne könnten sich letztlich als Bumerang erweisen, weil Wählerinnen und Wähler dann doch das noch lautere Original, eben die AfD, bevorzugen könnten.