Hamburg. Junge hatte tagelang Alsterdorf in Atem gehalten, ehe er in die UKE-Psychiatrie kam. Stadt scheint nicht zum ersten Mal überfordert.

Das Aufatmen zum Anfang der Woche war nicht zu hören – und trotzdem deutlich zu vernehmen. Als die Nachricht die Runde machte, dass der von den Behörden als gefährlich eingestufte 14-Jährige, der tagelang die Schlagzeilen beherrschte, am Montag von der Einrichtung des Kinder- und Jugendnotdienstes an der Feuerbergstraße in die geschlossene Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) gebracht wurde, herrschte Erleichterung.

Bei den Eltern aus nahe liegenden Kitas, die bereits mobil gemacht hatten, bei Nachbarn, bei den Polizisten, die den Jungen rund um die Uhr observieren mussten, und auch bei den zuständigen Behörden.

Ein Sprecher der Sozialbehörde betonte auf Abendblatt-Nachfrage: „Seit Übernahme des Falls des 14-Jährigen durch das Familieninterventionsteam im vergangenen Jahr hat es eine lückenlose Zuständigkeit und Betreuung gegeben, die bis heute anhält. Seit Entlassung aus der Untersuchungshaft am 7. Juni, dieses Datum war bereits der Presse zu entnehmen, wurde der Jugendliche im Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) in Obhut genommen.“ Mit anderen Worten: Ist doch alles gut.

Gefährlicher 14-Jähriger saß in Hamburg schon in Untersuchungshaft

Ist es das wirklich? Der eine oder andere fragt sich, warum sich die zuständigen Behörden erst knapp drei Wochen nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft zu diesem Schritt entschlossen haben. Dort war der Teenager seit August vergangenen Jahres, nachdem er einen Gleichaltrigen auf einem Grundstück am Rübenkamp im Stadtteil Barmbek an einen Baum gefesselt und mit Plastikfolie umwickelt haben soll. Das Opfer soll fast erstickt sein, konnte aber doch entkommen und die Polizei rufen.

In der anschließenden Verhandlung, in der es um das versuchte Tötungsdelikt ging, sprach ihn eine Richterin überraschend frei. Der Hauptbelastungszeuge, so heißt es aus der Justiz, habe einen „unglaubwürdigen Eindruck“ gemacht.

Doch auch nach seiner Entlassung aus der U-Haft wurde der problematische Junge mehrfach auffällig: Unter anderem beobachtete er nackte Kleinkinder an Planschbecken und soll in einem Drogeriemarkt Bilder kleiner Kinder abgeleckt haben (das Abendblatt berichtete). „Er ist sehr schlau und manipulativ“, sagte ein Mitarbeiter des KJND. „Er kann Filter an PCs umgehen, um sich dann Kinderpornos anzuschauen. Kinder sind seine Droge.“

Hamburger Sozialbehörde widerspricht Vorwürfen rund um den 14-Jährigen

Als das Abendblatt in der vergangenen Woche darüber berichtete, dass sich die Behörden uneins über das weitere Vorgehen gewesen seien, konterte ein Sprecher der Sozialbehörde: „Die Sozialbehörde und die Innenbehörde widersprechen dem Vorwurf einer unklaren Zuständigkeit“. Alle Akteure der Stadt (der Schule, der Polizei, der Staatsanwaltschaft, der Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch der allgemeinen Medizin) würden eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten.

Nun denn. Vielleicht ist der Fall des 14-Jährigen aber auch ein ganz besonderer Einzelfall.

Vielleicht aber auch nicht. Schnell wurden bei dem einen oder anderen Erinnerungen an eine ganze Reihe weiterer Fälle aus den vergangenen Jahren wach, die zumindest Parallelen aufweisen. Zum einen war da der Fall des 16 Jahre alten Maurice D., der vor sechs Jahren mehrfach aus der Jugendpsychiatrie ausbrechen konnte. Zum anderen gab es vor sogar elf Jahren den Fall eines 16-Jährigen, der ebenfalls in Alsterdorf auffällig wurde und ein Kleinkind entführte.

Auch der Fall von Christian L. ist schnell wieder präsent. Der 16 Jahre alte Intensivtäter hatte 1998 in Tonndorf mit einem Komplizen einen 73 Jahre alten Ladenbesitzer erstochen. Er war kurz zuvor aus der Haft in eine Jugendwohnung gezogen.

Gefährlicher 14-Jähriger: Der Junge erinnert an ähnliche Fälle in Hamburg

Auch bei Maurice D. sprachen die Behörden 2017 von einem „drastischen Sonderfall“. Der Teenager konnte seinerzeit mehrfach ungehindert flüchten, einmal nach einer Therapiesitzung aus der geschlossenen Jugendpsychiatrie des Kinderkrankenhauses Wilhelmstift in Rahlstedt. Beamte, die den damals 16-Jährigen von früheren Einsätzen kannten, bezeichneten auch ihn als „tickende Zeitbombe“.

Er hing Gewaltfantasien nach, bewunderte den Amokläufer von München – und hatte einen Plan zur Ermordung von zwölf Menschen in einem Hamburger Einkaufszentrum entwickelt.

Bevor er in die Jugendpsychiatrie des UKE kam, war der gefährliche 14-Jährige in der Einrichtung des Kinder- und Jugendnotdienstes (KJND) an der Feuerbergstraße in Alsterdorf untergebracht.
Bevor er in die Jugendpsychiatrie des UKE kam, war der gefährliche 14-Jährige in der Einrichtung des Kinder- und Jugendnotdienstes (KJND) an der Feuerbergstraße in Alsterdorf untergebracht. © Michael Arning | Michael Arning

Weil die herkömmlichen Sicherheitskonzepte offenbar nicht ausreichten, um den ­16-Jährigen an der Flucht zu hindern, und er dadurch mehrere Großeinsätze der Polizei auslöste, war dann im Wilhelmstift für ihn allein ein Wachdienst zuständig – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Einmal war ein selbst gebasteltes Einhandmesser bei ihm gefunden worden.

Nach seiner letzten Flucht wurde Maurice D. vorübergehend in der geschlossenen Psychiatrie des Asklepios Klinikums Ochsenzoll untergebracht, Tür an Tür mit psychisch kranken Straftätern. Ein Familiengericht hielt das für den falschen Ort, er kam zurück ins Wilhelmstift. Das sah den Jungen am besten in einer jugendforensischen Klinik untergebracht.

Das Problem: Im Maßregelvollzug der Jugendforensik wurden psychisch kranke oder suchtkranke Rechtsbrecher behandelt. Maurice hatte aber bisher keine schwerwiegenden Straftaten begangen. Das Abendblatt titelte seinerzeit: „Wie ein Junge mit Mordfantasien Hamburg überfordert“.

14-Jähriger: Nicht nur bei ihm sprachen Gutachter von „tickender Zeitbombe“

Ähnliches hätte man auch über den 16-Jährigen schreiben können, der 2012 einen kleinen Jungen von Alsterdorf nach St. Pauli verschleppte. Genauso wie bei Maurice D. und nun auch beim aktuellen Fall des 14-Jährigen sprachen Gutachter auch schon damals von einer „tickenden Zeitbombe“.

Seine Akte füllt zwei Ordner. Als er gefasst wurde, musste er „so lange wie notwendig“ in der geschlossenen Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses Ochsenzoll bleiben, wie es damals aus Gerichtskreisen hieß.

Christian L. erhielt seinerzeit acht Jahre Jugendstrafe. Was aus Maurice D. und dem Kidnapper von Alsterdorf später wurde, ist dagegen nicht bekannt. Ihre Spuren haben sich mit den Jahren verwischt. Auf Abendblatt-Nachfrage lässt ein Sprecher der Sozialbehörde ausrichten: „Hier greift der Sozialdatenschutz, sodass wir zu keinem der beiden Fälle eine Auskunft geben können.“