Der Rechtsmediziner Michael Tsokos über Fehler im Fall Yagmur und erforderliche Konsequenzen: Er fordert eine Agenda für besseren Kinderschutz.
Hamburg/Berlin. Professor Michael Tsokos ist einer der bekanntesten Rechtsmediziner Deutschlands. Seit 2007 leitet er das Institut für Rechtsmedizin der Charité in Berlin. Seine Bücher sind allesamt Bestseller. 2012 erschien der Thriller „Abgeschnitten“, den er gemeinsam mit Sebastian Fitzek verfasst hat. 2013 stand Tsokos, Jahrgang 1967, zusammen mit Jan Josef Liefers für die Verfilmung des Krimis „Die letzte Instanz“ vor der Kamera. In seinem jetzt erschienenen Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ macht er mit seiner Kollegin Saskia Guddat anhand vieler Fallbeispiele eine sehr plastische Bestandsaufnahme des Kinderschutzes und erhebt schwere Vorwürfe gegen die Behörden. Mit den Hamburger Verhältnissen ist Tsokos bestens vertraut. Bis zu seinem Wechsel nach Berlin war er am Rechtsmedizinischen Institut des Universitätsklinikums Eppendorf tätig. Ein Gespräch über Fehler im Fall Yagmur und die erforderlichen Konsequenzen.
Hamburger Abendblatt:
Sie warnen vor einem Zuwachs von schweren Körperverletzungen durch Jugendliche und Heranwachsende, weil diese selbst Gewalterfahrungen haben. Gibt es also mehr Gewalt gegen Kinder als früher?
Michael Tsokos:
Nein. Die Zahlen der polizeilich bekannten Fälle von Misshandlungen bei Kindern und Jugendlichen sind seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau. Das bedeutet: Es hat sich in den vergangenen Jahren nichts verbessert, auch wenn Behörden und Politiker behaupten, sie täten mehr für den Kinderschutz. Bekannt ist zudem, dass Menschen, die als Kind misshandelt wurden, häufiger als der Durchschnitt selbst später Kindern und anderen Menschen Gewalt antun. Wenn es eine Gewaltspirale gibt, ist das ein Alarmzeichen für unsere Gesellschaft, denn die nächste Generation von Gewalttätern wird bereits herangezogen.
Was ist im Fall Yagmur aus Ihrer Sicht schiefgelaufen?
Tsokos:
Bei Yagmur kommt all das zusammen, was wir in unserem Buch anhand von Fällen und Studien beklagen: Dass nämlich die zuständigen staatlichen Stellen aufgrund von Überlastung, häufigen Zuständigkeitswechseln, Leichtgläubigkeit den Angaben von Eltern gegenüber und dadurch bedingten Fehleinschätzungen zu einem fatalen Urteil gekommen sind und das Kind trotz eindeutiger Anzeichen von Misshandlungen den Eltern wieder ausgeliefert haben. Der einzige, der sich um das Leben und das Schicksal dieses Kindes gekümmert hat, war Professor Püschel.
Ihr früherer Chef in der Rechtsmedizin hier in Hamburg.
Tsokos:
Genau, das war mein akademischer Lehrer. Von ihm habe ich alles gelernt, was ich im Hinblick auf Kindesmisshandlung weiß. Er hat Yagmur untersucht und frühzeitig Strafanzeige erstattet, als er Verletzungen bei dem Kind feststellte. Am Ende konnten die Ermittler nicht herausfinden, wer für die Verletzungen des Kindes verantwortlich war, weil die Eltern dies abstritten – und damit verliefen die Ermittlungen im Sande. Das ist ganz typisch, ich habe häufig als Sachverständiger auch vor Gericht erlebt, dass die Richter trotz eindeutig festgestellter Verletzungen durch Misshandlungen von einem Unfall ausgingen. Eltern machen so etwas nicht, lautet das unterschwellige Credo.
Gibt es da eine Voreingenommenheit zugunsten der Eltern?
Tsokos:
Jedenfalls herrscht der Glaube: Was nicht sein darf, kann auch nicht sein. Oft sagen mir Richter nach Verhandlungen: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass diese Mutter das getan haben könnte. Um mal den Bogen zu spannen: Wenn die Mitarbeiter von Jugendamt und Jugendhilfe in den Familien die Augen aufmachen und erkennen würden, dass es da Misshandlungen gibt, wäre dies auch das Eingeständnis ihres eigenen Versagens, dass unter ihren eigenen Augen so etwas passiert ist. Es ist menschlich, dies zu verdrängen. Aber das ist eine Schwachstelle beziehungsweise ein Fehler im System.
Es ist also ein strukturelles Problem, dass Jugendamtsmitarbeiter nicht aufmerksam genug reagieren?
Tsokos:
Man kann den Jugendämtern nicht pauschal den Schwarzen Peter zuschieben. Da läuft vieles falsch, aber das liegt nicht daran, dass die Mitarbeiter ihre Arbeit nicht machen wollen oder können. Häufig wechseln die Zuständigkeiten, Mitarbeiter sind krank, Personal geht und kommt. Wie oft gab es in Hamburg in Bürgerschaft und Senat Diskussionen, dass die Jugendämter mehr Personal brauchen und die Zahl der Fälle pro Mitarbeiter begrenzt werden sollten. Immer wenn ein Kind zu Tode kam, wurde das Thema ganz oben auf die Agenda gesetzt – Folgen gab es kaum. Das ist die Schuld der Politik, nicht der einzelnen Mitarbeiter, die sich beherzt engagieren – ein Versagen des Systems aufgrund mangelnden Interesses der Politik.
Das Jugendamt hat Yagmur zurück zu ihren Eltern gegeben, obwohl es Anhaltspunkte dafür gab, dass sie für die Misshandlungen verantwortlich waren. Ist Überlastung der Grund?
Tsokos:
Das kann ich für Hamburg nicht beurteilen. Es spielen viele Faktoren eine Rolle, unter anderem die irrige Annahme, dass Kinder es immer bei ihren Eltern besser haben, anstatt dass man sie im Zweifelsfall aus der Familie herausnimmt, wenn es nicht geht. Natürlich ist das eine einschneidende Entscheidung. Aber gerade diese tödlich endenden Beispiele zeigen doch, dass es in einigen Fällen gerechtfertigt sein kann.
Das Leitbild, Kinder müssten fast um jeden Preis bei ihren Eltern leben, nennen sie im Buch eine „Monstranz“.
Tsokos:
Das ist natürlich ein Reflex auf die Zeit des Nationalismus, als Kinder in sehr hoher Zahl zwangsweise aus Familien herausgenommen wurden. Aber das Pendel hat viel zu weit ausgeschlagen. In dem Moment, in dem Kinder schwerste Verletzungen erleiden oder sterben, dürfen die Verantwortlichen nicht den Leitsatz vor sich hertragen, dass Kinder immer besser bei ihren leiblichen Eltern aufgehoben sind.
Warum übersehen „nahezu alle Akteure des deutschen Kinderschutzsystems – von den Helfern über die Ärzte bis hin zu den Strafverfolgern und Richtern – offensichtliche Hinweise auf Misshandlungen“, wie Sie schreiben?
Tsokos:
Die Verantwortlichen trauen vielfach den Eltern diese Gewalt nicht zu und nehmen dann zu kritiklos deren Erklärungen für die Verletzungen hin. Viele schrecken auch davor zurück, einen so schweren Vorwurf zu erheben und in die Auseinandersetzung zu gehen, aus Sorge, dass sie sich täuschen. Ärzte sind oftmals in dem irrigen Glauben, sie würden ihre Schweigepflicht verletzen und dann ihre Approbation verlieren, wenn sie einen Fall von Kindesmisshandlung zur Anzeige bringen. Das ist völliger Unsinn.
Jugendamtsmitarbeiter müssen einerseits ein Vertrauensverhältnis zur Familie aufbauen, um helfen zu können, aber andererseits als Kontrolleur Misshandlungen aufdecken. Ein Zwiespalt?
Tsokos:
Natürlich. Das ist die Krux des Systems. Was meinen Sie, was los ist, wenn Sie den Eltern ins Gesicht sagen: Sie haben ihr Kind misshandelt. Deshalb sprechen wir uns dagegen aus, dass Ärzte den Verdacht auf Kindesmisshandlung zwingend bei der Polizei melden müssen. Dann besteht nämlich die Gefahr, dass die Eltern mit ihrem schwer verletzten Kind nicht mehr zum Arzt gehen – aus Angst davor, angezeigt zu werden. Stattdessen brauchen wir eine Reaktionspflicht für Ärzte. Sie müssen verpflichtet werden, in Verdachtsfällen Eltern mit ihrem Kind an eine Kinderschutzambulanz zu überweisen, wo der Familie Hilfsangebote gemacht werden. Nach amerikanischem Vorbild könnten dort Anwälte, Hebammen, Krankenschwestern, Kinderschutzberater vor Ort sein.
Was muss sich aus Ihrer Sicht im Kinderschutz ändern?
Tsokos:
Die Familienpolitik muss sich erst mal verantwortlich bekennen. Nach jedem traurigen Einzelfall gibt es Flickschusterei und bei nächster Gelegenheit gerät das Thema schon wieder aus dem Fokus. Wir brauchen eine Agenda in der Familienpolitik, die sich nicht auf eine Legislaturperiode beschränkt, sondern auf zehn Jahre angelegt ist. Wir müssen dieses System, das in die Jahre gekommen ist, kritisch überprüfen und insbesondere finanzielle Abhängigkeiten von freien Trägern vom Jugendamt unterbinden. Außerdem kann es nicht sein, dass wie jetzt auch in Hamburg, lange erklärt wird, man habe alles richtig gemacht, aber das tote Kind vor einem auf dem Sektionstisch liegt. Es muss eine unabhängige Instanz geben, die die Arbeit der Jugendämter dauerhaft kritisch beurteilt. Das System muss ganz neu strukturiert werden. Kurzfristig kann man die Verantwortlichen – Kita- und Jugendamtsmitarbeiter sowie Kinderärzte – rechtsmedizinisch schulen und den Blick für Misshandlungen schärfen. Und was wir brauchen, sind Kinderschutzambulanzen in allen Städten, an die sich Betroffene bei Verdacht hinwenden können und Eltern Hilfsangebote bekommen.
Was war der Antrieb für Sie, dieses Buch zu schreiben?
Tsokos:
Vor knapp 20 Jahren habe ich mit der Rechtsmedizin angefangen und im Klinikum Nord in Hamburg die ersten Fälle misshandelter Kinder untersucht. Ich war fassungslos, was Eltern ihren Kindern antun können. Da dachte ich noch, das seien traurige Einzelfälle. Irgendwann ist mir klar geworden: Da steckt System hinter, nämlich ein Systemversagen.