Der qualvolle Tod der kleinen Yagmur war offenbar der Schlusspunkt eines langen Martyriums. Trotz Hinweisen auf Misshandlungen gaben die Behörden das Mädchen den leiblichen Eltern zurück.
Billstedt. Die Nacht hatten Melek Y., 26, und Hüseyin Y., 25, schon in Polizeigewahrsam verbracht. Am Donnerstagabend dann verkündete der Haftrichter den Eltern der am Mittwoch gestorbenen drei Jahre alten Yagmur Y., die Haftbefehle. „Der Haftbefehl gegen die Mutter wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen, der gegen den Vater wegen Totschlags erlassen“, sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Nana Frombach. Haftgrund: Fluchtgefahr.
Der qualvolle Tod der kleinen Yagmur war offenbar der Schlusspunkt eines langen Martyriums. Und möglicherweise die Folge eines fatalen Versagens der Jugendämter. Wie das Abendblatt erfuhr, hat die Staatsanwaltschaft jetzt auch Ermittlungen gegen Jugendamts-Mitarbeiter eingeleitet.
Eltern erhielten Kind endgültig zurück, obwohl gegen sie ermittelt wurde
Konkrete Hinweise auf Misshandlungen gab es schon früher. Wunden und blaue Flecken in einer für Kleinkinder untypischen Häufung. Spätestens Ende Januar 2013 war das Leid der Dreijährigen unübersehbar: Yagmur Y. kam damals mit schwersten Schädelverletzungen, die durch ein Schütteltrauma verursacht worden sein könnten, und einer eingerissenen Bauchspeicheldrüse ins Altonaer Kinderkrankenhaus und musste operiert werden.
Weil die Verletzungen auf eine Straftat hindeuteten, wurde der Leiter der Rechtsmedizin, Professor Klaus Püschel, zur Begutachtung des Mädchens hinzugezogen. Für den Experten gab es danach nicht den leisesten Zweifel, dass die Verletzungen dem Kind „von fremder Hand“ zugefügt worden waren, wie es in der Fachsprache heißt. Püschel erstattete umgehend Anzeige. Zu dem Vorgang wollte sich die Rechtsmedizin auf Anfrage mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht äußern.
Nach Abendblatt-Informationen hatte Ende Januar zwar die Pflegemutter Yagmur in die Klinik gebracht. Melek Y. und Hüseyin Y., die Yagmur bereits Anfang Januar in ihre Obhut genommen hatten, sollen ihr aber zuvor das schwer verletzte Kind übergeben haben. Danach kam die Kleine in ein Kinderschutzhaus. Bis sie schließlich im August 2013 endgültig ihren Eltern übergeben wurde.
Und das, obwohl die Ermittlungen, die sich hauptsächlich gegen Hüseyin und Melek Y. richteten, noch auf Hochtouren liefen. „Es gab Anhaltspunkte, dass sie als Täter in Betracht kommen“, sagt Frombach. Weil jedoch nicht aufgeklärt werden konnte, wer dem Kind die Verletzungen zugefügt hat, sei das Verfahren eingestellt worden – allerdings erst am 7. November, also drei Monate nach Yagmurs Rückführung. Wie es dazu kommen konnte, prüft jetzt die Staatsanwaltschaft. Das Kind war am Mittwoch leblos in der elterlichen Wohnung am Großen Holl in Billstedt entdeckt worden. Reanimationsversuche scheiterten. Gegenüber dem Notarzt und gegenüber der Polizei behauptete Melek Y., ihre Tochter habe sich die Verletzungen durch einen Sturz auf dem Weg vom Kinder- ins Wohnzimmer zugezogen. Eine Eilsektion der Rechtsmedizin ergab, dass Yagmur Y. durch einen Leberriss qualvoll verblutet war.
Entstehen kann so eine Ruptur, wenn massive Kräfte auf den Körper einwirken und dieser aus einer bewegten Situation abrupt abgebremst wird, sagt Dr. Gregor Stavrou, Oberarzt für Viszeralchirurgie mit Schwerpunkt Leberchirurgie in der Asklepios Klinik Barmbek. Typischerweise tritt ein Leberriss nach Stürzen aus großer Höhe oder bei Verkehrsunfällen auf. Aber auch harte Tritte oder Schläge kommen infrage. Dadurch könnte eine Rippe brechen, nach innen gedrückt werden und die Leber regelrecht aufspießen, wodurch es innerhalb des Organs zur Blutung kommt, die im besten Fall noch von der Leberkapsel gestoppt werden kann. „Bei den weichen Knochen eines erst drei Jahre alten Kindes müsste es sich aber um ein massives Trauma handeln“, sagt Stavrou. Stunden-, sogar tagelang könne die Verletzung unentdeckt bleiben. „Ist die Leber einmal eingerissen und der Riss nicht ausgeheilt, könnte aber auch durch einen späteren leichten Sturz die Organkapsel aufreißen und es zu einem plötzlichen massiven Blutverlust kommen, wir sprechen dann von einer zweizeitigen Ruptur“. Die Ermittler halten diesen Ablauf nach Abendblatt-Informationen sogar für wahrscheinlich.
Es bleiben viele Fragen offen. Welche Bedeutung etwa maßen die Ämter den Vorstrafen von Hüseyin Y. bei? Yayas Vater ist unter anderem wegen eines Betrugsdelikts zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz wurde eingestellt. Gegenüber seiner Frau Melek soll er zudem handgreiflich geworden sein. Die 26-Jährige hatte Anzeige erstattet, diese aber kurz darauf zurückgezogen.
Yayas Mutter zeigte den Vater an, zog aber die Anzeige wieder zurück
Die Grünen beschäftigt vor allem die Frage, warum das Bezirksamt Mitte das Kind trotz der Ermittlungen wieder in die Obhut der Eltern gab. „Diese Entscheidung erscheint nur sehr schwer nachvollziehbar“, kritisierte die Grünen-Abgeordnete Christiane Blömeke. „Offenbar haben die Maßnahmen zum Kinderschutz erneut nicht ausgereicht. Sozialbehörde und Bezirke müssen jetzt schnell und umfassend alle Informationen öffentlich machen.“
Am Montag kommt der Familienausschuss der Bürgerschaft zu einer Sondersitzung zusammen. Darauf haben sich alle fünf Fraktionen verständigt. „Der Tod des Mädchens macht uns tieftraurig und sehr betroffen“, sagte auch der Christoph de Vries, familienpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion. Es sei tragisch, dass ein Mädchen, das seit seiner Geburt in staatlicher Obhut war, nach gegenwärtigem Stand offenbar zu Tode misshandelt worden sei.
„Sollte sich der Verdacht bestätigen, dass Yagmur in Folge von Misshandlungen zu Tode gekommen ist, werden wir, wie im Fall des Mädchens Chantal, die familiäre Vorgeschichte und alle von staatlichen Stellen getroffenen Entscheidungen bis in den letzten Winkel durchleuchten – und zwar ohne Ansehen der Person“, sagte de Vries. Alle, die in der Vergangenheit Verantwortung für das Mädchen getragen haben, seien gut beraten, ihre Hände nicht voreilig in Unschuld zu waschen.