Demonstranten sind schon mit Steinen, Stahlrohren, Böllern und Gehwegplatten bewaffnet, bevor die Kundgebung beginnt. Die Eskalation ist nicht mehr aufzuhalten. Im Schanzenviertel, auf dem Kiez, in Hoheluft und Eimsbüttel kommt es zu massiven Zerstörungen
Sterns Chanze/St. Pauli . Das Schulterblatt gleicht einem Scherbenhaufen, als ein Radlader der Stadtreinigung am Sonnabend gegen 20 Uhr vom Neuen Pferdemarkt kommend in das Schanzenviertel einbiegt. Er fährt vorbei an zerstörten Schaufenstern, die von Handwerkertrupps provisorisch zugenagelt werden, an zerbrochenen Verteilerkästen, aus denen Kabel herausragen. Es gibt kaum einen Fußbreit Straße oder Bürgersteig, der nicht von Glassplittern, Fahnenresten und Müll bedeckt ist. Vor dem Haus 73 liegt das Erdreich blank. Pflastersteine und Gehwegplatten wurden aus dem Boden gerissen – Munition für die Straßenschlacht. Handtellergroße Steine künden von der Gewaltorgie, die nur wenige Stunden zuvor hier tobte.
Der seit Monaten kursierende Aufruf der Rote-Flora-Aktivisten hatte deutlich mehr Menschen erreicht als die Polizei erwartet hatte. Mehr als 7000 Menschen, fast durchgängig schwarz gekleidet, drängen sich kurz um vor 15 Uhr vor dem Kulturzentrum, für dessen Erhalt sie demonstrieren wollen – nachdem der Eigentümer der ehemals städtischen Immobilie die Räumung angedroht hatte. Viele Demonstranten sind maskiert, tragen Sonnenbrillen. Viele gehören augenscheinlich nicht zur hiesigen Szene, schon vom Dialekt her, keine heranwachsenden Mitläufer, sondern erwachsene Männer, erfahrene Kämpfer. Manche haben sich mit Eisenstangen bewaffnet. Die meisten aber trinken Bier oder stehen vor den kleinen Restaurants im Viertel an, bevorzugt vegetarische Küche. Die Polizei, die zunächst mit erheblichem Abstand unterhalb der Eisenbahnbrücke auf die Spitze des angemeldeten Aufzugs wartet, schätzt, dass nur ein Fünftel der Teilnehmer der Demo friedfertige Absichten hegt.
Die Stimmung ist deutlich angespannt, nicht zuletzt, weil Polizei und Veranstalter noch bis zur letzten Sekunde über die Route diskutieren, was über den weißen Lautsprecherwagen der Protestler verkündet wird. Nach dem Angriff Linksradikaler auf die Davidwache in der Nacht zuvor will die Polizei die Demonstration von der Reeperbahn fernhalten und beschneidet die Marschroute, was dem Veranstalter nicht behagt. Beide Seiten einigen sich erst um 15 Uhr, als die Demonstration schon längst gestartet sein sollte: Der Weg wird verlängert, soll nicht nur bis zur Feldstraße, sondern auch wieder zurück in die Nähe des Schulterblattes – bis zum Neuen Pferdemarkt – führen. Beginn soll um 15.15 Uhr sein.
15.09 Uhr, Schulterblatt
Als sich der mehrere Tausend Menschen starke Aufzug schon neun Minuten später formiert und schnellen Schrittes in Richtung Altonaer Straße läuft, springen Bereitschaftspolizisten vor die Demonstranten und riegeln die Straße ab. Sekunden später stehen sich die überraschten Polizisten, die noch hastig Helme über ihre Köpfe ziehen, und der sogenannte schwarze Block Auge in Auge gegenüber. Es kommt zu Handgreiflichkeiten auf der gesamten Front, dann fliegen die ersten Steine aus dem Demonstrationszug nach vorn.
In den folgenden knapp 20 Minuten erlebt das Schanzenviertel die härteste Auseinandersetzung zwischen Polizei und linker Szene, die es dort seit Jahren gegeben hat. Die Bilder ähneln denen aus dem Straßenkampf rund um die St.-Pauli-Hafenstraße vor fast 30 Jahren. Ein Regen aus Pflastersteinen, zerbrochenen Gehwegplatten, Böllern, bengalischem Feuer, Farbbeuteln und Flaschen geht auf die Beamten nieder.
Die Polizei lässt zwei, später sogar drei, Wasserwerfer unter der Brücke vorfahren, die die Reihen der Demonstranten mit ihren Wasserkanonen zurückdrängt. Beamte der speziell für solche Einsätze geschulten Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) formieren sich und rennen immer wieder gegen und in die Masse der teilweise bereits völlig durchnässten Demonstranten, die mit Stöcken und Steinen gegenhalten, es sogar auf regelrechte Mann-gegen-Mann-Kämpfe ankommen lassen. Von der Bahnbrücke, über die kurz zuvor noch ein ICE rollte, werfen Vermummte Steine auf nachrückende Polizeieinheiten. In einer Budnikowsky-Filiale zersplittern die Scheiben, Steine fliegen in den Verkaufsraum. Von den Kunden, die dort trotz Großdemo einkaufen, wird keiner verletzt. Die Situation entspannt sich erst ein wenig, als beide Seiten durch einen breiten Korridor getrennt sind.
15.40 Uhr, Schanzenviertel
31 Minuten nachdem sich der schwarze Block in Bewegung gesetzt hatte, erklärt die Polizei „die Versammlung aufgrund der andauernden Gewalttätigkeiten aus dem Demonstrationszug heraus für aufgelöst“, wie es in einer später folgenden Pressemitteilung heißt. Die Menschen auf der Piazza werden aufgefordert, das Schulterblatt zu verlassen. Alle Zugänge werden von Polizeieinheiten abgeriegelt, es darf niemand mehr hinein. Die Masse der Protestler schiebt sich in Richtung Neuer Pferdemarkt, wo sie wieder von Polizisten gestoppt werden. Über eine neue Demonstration können sich Polizei und Linke nicht einigen. Der Veranstalter will eine neue anmelden, der Einsatzleiter nur eine Kundgebung erlauben.
Es habe zur Polizeitaktik gehört, den Aufzug gar nicht erst aus dem Schulterblatt herauszulassen, kritisiert später die Gegenseite. Die Polizei argumentiert: Wäre es nicht zum Gewaltausbruch gekommen, hätte der Demonstrationszug wie geplant weitergehen können. Grundsätzlich sei der Aufzug deshalb gestoppt worden, weil die Demonstranten sich nicht an die Absprache gehalten hätten und zu früh losgelaufen seien. Die Gewalt sei von der Polizei ausgegangen, halten die Organisatoren entgegen.
Um kurz nach 17 Uhr zieht sich die Polizei zurück und lässt die Demonstranten ziehen. Zu diesem Zeitpunkt ist der harte Kern der Linksradikalen längst in der gesamten Stadt unterwegs. In der Auseinandersetzung mit der Polizei erfahren, hatten sie sich vermummt und in größeren Gruppen von 100 bis 300 Personen aus der Schanze entfernen können. Immer wieder werden Polizeieinheiten angegriffen, die sich mit Schlagstöcken und Pfefferspray wehren. Zu diesem Zeitpunkt sind mehr als zwei Dutzend Beamte verletzt, ihre Zahl wird auf 120 steigen. Ein Polizist aus Bayern muss bewusstlos von Kollegen in Sicherheit gebracht werden. Ihm war das Schultergelenk ausgekugelt worden. Eine Beamtin wird schwer im Gesicht verletzt, als es bei einer Blaulichtfahrt zu einem Verkehrsunfall kommt.
17.30 Uhr, Reeperbahn
Die Polizei ist jetzt mit zwei Brennpunkten konfrontiert: Von der Hoheluftchaussee werden mehr als „1000 Rot“ gemeldet, Polizeikürzel für 1000 linke Gewalttäter. Sie werden später das Bezirksamt Eimsbüttel attackieren und für Chaos rund um den U-Bahnhof Hoheluftbrücke sorgen. Während die Davidwache von Wasserwerfern beschützt wird, versammeln sich Linksradikale nur 100 Meter entfernt auf der Reeperbahn vor den Esso-Häusern. Mülltonnen brennen, Polizeiwagen werden mit Steinen beworfen. Die Polizeihundertschaft, die dort allein eingesetzt ist, wird der Lage kaum Herr. Als sich eine Polizistin zu weit von ihrer Gruppe entfernt, wird sie von Randalierern angegriffen und auf dem Boden liegend geschlagen und getreten. Bei ihren Kollegen liegen die Nerven blank, sie reagieren zunehmend gereizt, sprühen mit Tränengas um sich. „Störergruppen“, wie sie die Polizei nennt, verstecken sich auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Spielbudenplatz, sind unter den übrigen Besuchern kaum auszumachen. Um kurz nach 19 Uhr nimmt die Polizei 300 Menschen an der Kastanienallee in Gewahrsam. Dennoch gelingt es Randalierern, am Hotel Empire Riverside den Vorplatz verwüsten. Die Situation beruhigt sich erst gegen 21 Uhr.
22.15 Uhr, Hoheluftchaussee
Die Innenstadt, die als Gefahrengebiet ausgerufen worden war, bleibt von den Ausschreitungen weitgehend unberührt. „Unser Konzept ist aufgegangen“, sagt Polizeisprecher Mirko Streiber. Die letzten Auseinandersetzungen liefern sich Vermummte und Polizisten, nachdem sie die Scheiben des Aldi- Marktes an der Hoheluftchaussee eingeworfen hatten. Nach 22.15 Uhr kehrt aber auch dort Ruhe ein. Nach sieben Stunden der Gewalt.