Wie in Stuttgart soll der Bahnhof auch in Altona verlegt werden. Die Stadt Hamburg versucht, die Konflikte im Vorfeld zu entschärfen.
Altona. Nein, vor der Schuppentür mit der großen 21 dran wollen sie sich dann doch nicht fotografieren lassen. "Lieber nicht", sagen Veronika Hilbermann und ihr Kollege Johannes Gerdelmann und stellen sich vor die Tür 43 der verwaisten Güterbahnhallen in Altona. Zu symbolträchtig ist derzeit diese Zahl 21. Seit die Proteste Stuttgarter Bürger gegen den Abriss ihres Bahnhofs und die Neubaupläne unter dem Namen Stuttgart 21 zum Synonym schlechthin für Bürgerprotest gegen etablierte Planung von Großprojekten geworden ist.
Und auch Hilbermann und Gerdelmann planen als städtische Projektleiter hier rund um die alten Hallen ein Großprojekt. Sogar das größte nach der HafenCity in Hamburg: Auf rund 75 Hektar, eine Fläche fast halb so groß wie die Außenalster, soll in den kommenden Jahren mit der "Mitte Altona " ein neuer Stadtteil mitten in den Bezirk gebaut werden. Nächste Woche will Hamburgs Oberbaudirektor Jörn Walter das Ergebnis eines städtebaulichen Wettbewerbs dazu vorstellen. Und: Auch in Altona soll ein Bahnhof verlegt werden - allerdings nur der Teil mit den Fernbahnen. Der weitaus größere S-Bahnbereich bleibt. Dennoch gibt es Parallelen, die in der Stadtentwicklungsbehörde für Nervosität sorgen. In der Bürgerschaft schworen kürzlich die ersten Politiker bereits das Bild eines Altona 21 herauf.
In solchen Zeiten einen ganzen Stadtteil mitten in vorhandene Quartiere zu implantieren, dürfte da eine ganz neue Herausforderung sein. "Stimmt", sagt der 50-jährige Planer Gerdelmann und lächelt tapfer, "aber es ist auch sehr spannend." Wohl war: Da sind die Interessen der Grundbesitzer, große Firmen wie der Immobilien-Riese Aurelis, der zum Baukonzern Hochtief gehört, die Holsten AG, die Bahn AG. Da sind aber auch Politikerwünsche, die am liebsten supergünstige Wohnungen mit teuersten Passivhausstandards bauen wollen. Und da sind die Bürger, die zunehmend auf Mitsprache drängen. Längst kommt der Protest nicht mehr nur aus dem eher linksalternativen Lager. Längst ist der Protest bürgerlich geworden
Thomas Leske ist so ein Protest-Bürger: Der 72-jährige Psychotherapeut hat die Gruppe Altopia gegründet, die dem lockeren Verbund der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung angehört. Er hat sich eine dicke Pudelmütze angezogen und stapft über das künftige Gelände der neuen Mitte: Ein großer Wasserturm steht dort noch, Backsteinhallen mit zerbrochenen Fensterscheiben, Gras wächst kniehoch an windschiefen Absperrgittern. Rund um das riesige Brachland sind die oft gründerzeitlichen Altbauten des prosperierenden Altona zu erkennen. Eine sehr attraktive Lage, würden Makler wohl sagen. "Wir wollen hier kein Reichen-Ghetto, keine zweite HafenCity mit lauter teuren Eigentumswohnungen", sagt hingegen Leske. Aber wollen die Planer Gerdelmann und Hilbermann das denn? "Nein", glaubt Altopia-Gründer Leske. "Die wollen nur Gutes - unsere Gegner sind eher Eigentümer und Investoren, die nach Maximalrendite streben." Ob die Politik da die Anwohnerinteressen immer im Blick hat, sei fraglich, sagt Leske: "Da geht es eher um politisches Kalkül und das Abschmettern des politischen Gegners."
Doch wie plant man bei solchen Gemengelagen nun einen Stadtteil - ohne dass der Protest alles lahmlegt? Gerdelmann und seine 35-jährige Kollegin holen bei dieser Frage weit aus. Sicher, vor den alten Güterbahnschuppen könne man als Planer ins Schwärmen kommen, sagt Hilbermann. Was wäre hier nicht alles möglich? Kunst, Kleingewerbe, Gastronomie in historischem Backsteingemäuer, das erhalten bleiben soll. Nicht exklusiv, sondern "Low-Budget bis Mittel-Budget". Ein Kleinod des neuen Stadtteils. Doch vor solchen Visionen stehe viel Grundsatzarbeit, technische Fragen eben: Welche Altlasten schlummern im Boden, wie teuer ist die Entsorgung, wie sind die Eigentumsverhältnisse, wie ist der geologische Untergrund, welche Straßen können zusätzlichen Verkehr aufnehmen, wie werden Regen- und Schmutzwasser abgeleitet? Und dann gelte es, Interessen abzuwägen: Was wollen die Eigentümer, was will die Politik, was wollen die Bürger? Ein vorsichtiges Abtasten der Möglichkeiten. "Es nützt nichts, nur das Maximale zu fordern - es muss sich auch rechnen für Eigentümer und Investoren. Sonst passiert gar nichts", sagt Gerdelmann.
Dennoch wissen die beiden Planer, dass sie es hier mit ausgebufften Unternehmen zu tun haben: Bereits 2007 beschloss die Stadt daher, das künftige Plangebiet zur "Entwicklungsmaßnahme" zu erklären. Unter Juristen gilt ein solcher Schritt als das "schärfste Schwert" im Bodenrecht. Im Prinzip kann die Stadt nun Flächen enteignen und selbst bauen. "Wir rasseln ein wenig mit dem Säbel", sagt Planerin Hilbermann und lächelt. Mit einer Blockade der Pläne können Hochtief oder Holsten jetzt nicht mehr pokern, gleichwohl ist es für eine Stadt finanziell schwer, selbst zum Bauherrn zu werden - das zwingt zum Kompromiss zwischen Renditeerwartung und städtischen Wünschen.
Seit Juli arbeiten nun zehn Architektenbüros an Entwürfen für den städtebaulichen Wettbewerb, den die Stadt ausgelobt hat: Es geht um Vorschläge für eine Art Masterplan, der Grundlage für einen konkreten Bebauungsplan werden soll. In einer Zwischenpräsentation im August konnten Politiker und Anwohner erste Ideen vorab sehen. 1600 bis 2000 Wohnungen sind demnach grob geplant. Dazu neue Parks, Kultur und Gastronomie in den alten Bahnhallen. Die meisten Entwürfe zeigten Wohnhäuser mit fünf bis sieben Geschossen, einzelne aber auch einige Häuser, die deutlich höher sind. Doch reicht eine solche öffentliche Präsentation, um Vertrauen zu schaffen?
Möglicherweise noch nicht: Zu viel ist in früheren Jahren gerade hier in diesem Bezirk in Hinterzimmerchen verhandelt worden, sagen selbst Behördenmitarbeiter hinter vorgehaltener Hand. Es gibt ein allgemeines Grundmisstrauen - gerade in Altona. Das beliebte Bismarckbad wurde hier gegen einen Bürgerentscheid abgerissen, die Elbtreppenhäuser sind bedroht, zuletzt wollte der Senat sogar das Altonaer Museum dichtmachen. "Man hat hier immer das Gefühl, dass uns Hamburg etwas wegnehmen will", sagt Altopia-Gründer Leske.
Die Stadtentwicklungsbehörde reagiert auf solche Befindlichkeiten mit neuen Beteiligungsverfahren. In der Wettbewerbsjury sitzen erstmals auch normale Bürger, allerdings ohne Stimmrecht. Es gab Infoveranstaltungen und "Workshops". Anwohner konnten dort Wünsche auf kleine gelbe Zettel schreiben. "Das gab viele Anregungen", sagt Planer Gerdelmann. "Das ist Erwachsenenbespaßung ohne Verbindlichkeit", sagt Kritiker Leske.