Hamburg. Kalle Schwensen, Rapper Gzuz, Milliarden Mike – Kneipen-Party mit Hunderten Gästen. Warum Konny Reimanns Hamburg-Liebe buchstäblich wehtut.

Vor 50 Jahren sah es an der Reeperbahn in Hamburg noch anders aus. Es gab Zeiten, als die Luden sich in dem Hafenviertel bis aufs Blut bekämpften; auch die Gäste in der Ritze wurden Zeugen der Kriege unter den Kiezgranden. So wurde 1981 der Zuhälter „Chinesen Fritz“ an der Theke der Ritze erschossen, der Auftragskiller erledigte seine Mission kurzerhand bei laufendem Betrieb.

Am Donnerstagabend, Hunderte Persönlichkeiten des Hamburger (Nacht-)Lebens sind geladen, feiert die Institution an der Sexmeile ihren 50. Geburtstag eher mit Pomp und Promis als mit Prostituierten. Dazu passt der Auftritt des Ritze-Betreibers Carsten Marek: Er fährt am frühen Abend mit einer Kutsche vor. Die Gäste kommen aus Politik, Milieu, Medien und Boxsport. Geladen sind Kiez-Unternehmer Kalle Schwensen, Rapper Gzuz, TV-Star Max Suhr und Schauspieler wie Sandra Quadflieg und Uwe Rohde.

St. Pauli: Die Legende wird 50 Jahre alt – wie der Kiez die Ritze feiert

Musik gibt es passend zum Umfeld von Joachim Witt („Der goldene Reiter“) und von Rapstar Achtvier. Allessa, Schlagerstar aus Österreich, singt „Ich liebe das Leben“. Die Stimmung unter den Gästen könnte kaum besser sein. Nostalgie inklusive. Kalle Schwensen etwa hat höchst private Erinnerungen an das Geburtstagskind. „Früher war das hier der Eingang zu meiner Garage“, sagt Schwensen. „Jetzt ist es eher ein Tourispot. Aber das ist okay. Carsten macht das gut. Die Zeiten ändern sich halt.“

50 Jahre Ritze
Selfie muss sein zum 50. Geburtstag der Ritze auf St. Pauli: Kiez-Urgestein Kalle Schwensen und Ex-Profiboxer Axel Schulz © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Jürgen Hunke, Ex-HSV-Präsident und Hamburger Unternehmer, ist am Donnerstagabend mit Frau und Tochter in die Ritze gekommen. „Ich bin von einem Freund eingeladen worden. Ich sollte meine Vorurteile überwinden, deswegen bin ich hergekommen“, sagt er lachend. Auch Autor Michel Ruge, der auf dem Kiez aufwuchs, gehört zu den Gratulanten: „Ich war schon als Kind hier, mit meiner Mutter und Großmutter. Und mir wurde gesagt, das sei ein Friseur. Bis heute ist mir nicht klar, ob hier jemals ein Friseur war. Jedenfalls gab es hier Pornos und Frauen, die schaukelten“, sagt Ruge grinsend.

Und siehe da, auch Auswanderer Konny Reimann ist für die Ritze kurz mal wieder eingewandert. Reimann sagt, er sei extra aus Hawaii für die Party nach Hamburg gekommen. Er erwarte „Spaß“ und freue sich darauf, neue Leute kennenzulernen. Und er führt noch etwas ganz Besonderes im Schilde: „Ich gehe zum Tätowierer und lasse mir das Hamburger Wappen stechen.“

Reeperbahn: Kultkneipe Ritze ist Treffpunkt der Kiez-Originale

Wo früher berüchtigte Rotlicht-Größen hinter einem dicken roten Vorhang Geschäfte aller Art besiegelten, steht an diesem Abend Feiern im Vordergrund – und alte Freunde treffen. Darunter Milliarden Mike, für den die Ritze sein „zweites Zuhause“ ist.

Der 68 Jahre alte ehemalige Profiboxer gehörte zu den besten Kumpeln von Ritze-Gründer Hanne Kleine, trainiert dort nach wie vor und, wie er bei der Party erzählt, erlebt den Hinterhoftreff wie eine große Familie, „man kennt sich“, sagt Mike Wappler.  

St. Pauli: Berühmtheiten wie Jan Fedder, Ben Becker oder Udo Lindenberg bewirtet

Doch die Bar mit den zwei weit gespreizten, fast nackten Beinen an der Eingangstür gibt es nicht nur seit 50 Jahren – sie hat auch etliche Berühmtheiten wie Jan Fedder, Ben Becker oder Udo Lindenberg bewirtet.

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Zwei Fäuste für die Ritze: Fernsehmoderator Hinnerk Baumgarten und Ritze-Chef Carsten Marek © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Und natürlich echte Kiezianer. „1975 hat mich mein alter Herr das erste Mal mitgenommen“, erzählt „Schnecke“ über den ersten Besuch in der Ritze, damals war er 15 Jahre alt. „Das war die große weite Welt, wie Las Vegas“, erinnert sich der im Karo-Viertel aufgewachsene St. Paulianer an das damalige Nachtleben. Er schwärmt von der Nostalgie, die dem Ort geblieben sei. „Hier ist ja noch alles so wie früher“, sagt der 63-Jährige und zeigt auf den Stammtisch. „Da saß ich schon vor 40 Jahren“, sagt Schnecke, früherer Dollhouse-Chef, der sich eher als Kiezlänge denn als Kiezgröße bezeichnet, „denn ich bin ja schon so lang hier“, sagt der ehemalige Bordellbesitzer lachend.

Zur Ritze an der Reeperbahn: Im Keller erhängte sich der „Pate von St. Pauli“

Die Ritze wurde Location wilder Partys und tauchte 2006 nochmals in den Schlagzeilen auf. Der „Pate von St. Pauli“, Stefan Hentschel, erhängte sich am Boxring unter der Bar. Dieser schummrige Keller war einst Keimzelle der Kneipe. 1974 richtete der Mittelgewichtsboxer Hanne Kleine hier einen Boxkeller unter dem Bordell Palais D’Amour auf der Reeperbahn ein. Darüber entwickelte sich die Ritze, die Hanne Kleine über viele Jahrzehnte führte, wobei der vordere Bereich des Lokals einst als Pissoir des Palais D’Amour diente. 

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Michel Ruge mit seiner Frau Annika. Ruge wuchs auf dem Kiez auf und schrieb darüber. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Das Boxen und die Bordelle verbinden die alten Zeiten mit dem heutigen Betreiber, Carsten Marek. „Die Ritze ist meine Leidenschaft, mein Lebenswerk“, sagt der ehemalige Kickbox-Weltmeister, der in den 80er-Jahren bei der Nutella-Gang anfing, einer Zuhälterorganisation auf St. Pauli. In den 2000er-Jahren galt er als berüchtigter Chef der 80-köpfigen Marek-Bande, die mit harter Hand mehrere Bordelle auf dem Kiez unterhielt. Der 64-Jährige betreibt heute noch einen Sexbetrieb in Hamburg-Hamm, das „Babylon“.

St. Pauli: Feier zum 50-jährigen Bestehen der Ritze auf dem Kiez

Ins Kneipenbusiness stieg er 2014 ein, übernahm erst den Boxkeller und wenig später auch das Lokal selbst. „Wir feiern nicht nur 50 Jahre „Zur Ritze“ – wir feiern den Kiez, die Menschen und das Leben,“ freut sich Marek heute, ein halbes Jahrhundert später.

Noch immer wird im Keller geboxt, rund 100 Männer und Frauen trainieren dort. Auch Größen wie Henry Maske und die Klitschko-Brüder waren schon da. „Die Luft in der Ritze ist schwer von Geschichte“, findet Marek. „Jeder, der hier eintritt, spürt sofort, dass dieser Ort nicht nur ein Teil der Reeperbahn ist, sondern ein Teil von Hamburgs Seele.“


Boxer Markus Bott Anfang der 80er-Jahre vor dem Eingang der Ritze
Boxer Markus Bott Anfang der 80er-Jahre vor dem Eingang der Ritze © IMAGO | IMAGO

St. Pauli: Das Hamburger Rotlichtviertel wandelt sich und wird zum Touri-Magneten

Die Ritze steht im Rotlichtviertel wie die Bars Zum goldenen Handschuh und Elbschlosskeller für das alte, verwegene St. Pauli, das jährlich Millionen Touristen anlockt. Die Bordelle sind heute teilweise Touristenunterkünften gewichen. Ricarda Belmar baut die Etablissements um, zu Ferienwohnungen. „Hier sind Jung und Alt willkommen“, sagt die 34-Jährige über die Ritze. Die bekannte Influencerin sieht das Lokal gar als „Wahrzeichen für St. Pauli“.

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Original nur mit Sonnenbrille: Eddy Kante, Ex-Bodyguard von Udo Lindenberg, feiert am Donnerstagabend mit. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

„Die Ritze hat all die Triumphe und Tragödien der Reeperbahn überlebt – und wird auch weiterhin ein Symbol für den echten Hamburger Kiez sein“, betont Carsten Marek, der den Traditionsbetrieb nicht nur wie ein Denkmal erhält, sondern auch in die neue Zeit führt. Denn die Kultkaschemme greift bald auch ihre eigene Historie auf: Die Kneipe wird im eigenen Boxkeller eine neue Personality-Show namens „Kiezlife Live“ präsentieren, in der Kiez-Originale ihre Erlebnisse aus dem Milieu teilen.

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Die Show soll eine Mischung aus Gespräch, Komik und Musik werden, mit einer selbstkritischen Note. Neben Marek sind auch Insider wie „Schnecke“, Ricarda Belmar und Milliarden Mike dabei, wie bei einer großen Familie.