Hamburg. Was braucht die „geile Meile“, um attraktiv zu bleiben? Kiez-Unternehmer schlagen Alarm und fordern Stopp für Kioske.

Ausschließlich Mineralwasser und Cola light auf dem Stammtisch der Ritze haben in der berühmt-berüchtigten Kiezkaschemme Seltenheitswert. Die Drinks jedoch passen prima zum besonderen Charakter dieser bewusst handver­lesenen Gesprächsrunde. Thema in der Nische backbords der Theke: Wie entwickelt sich das Amüsierviertel St. Pauli? Vor allem: Welchen Kurs steuert das Viertel künftig? Skeptische Blicke am legendären Ecktisch, an dem einst die Rotlichtgranden Reviere absteckten, sagen schon vor dem ersten Wort eine Menge.

„Hamburgs Politik hat nicht wahrgenommen, dass der Kiez in den letzten Jahren an Leuchtkraft und Buntheit verloren hat“, startet Susanne Faerber das Hintergrundgespräch. „Unser Quartier darf nicht austauschbar werden und zu einer gesichtslosen Betonlandschaft mit viel zu vielen Kiosken verkommen.“ Die Herren an ihrer Seite nicken zustimmend. „Das Rotlicht wurde total zurückgedrängt“, sagt Carsten Marek, „aber deswegen kommen Besucher aus aller Welt eigentlich.“ Wo sich früher ein Sexladen neben dem anderen befand, gebe es heute überwiegend billigen Alkohol im Straßenverkauf oder Dönerbuden reihenweise. Jan-Peter Stölken, der Dritte im Bunde, befindet: „Der Kiez befindet sich auf Talfahrt, durch die Corona-Krise noch beschleunigt.“ Während Hamburg Aushängeschilder wie Elbphilharmonie, Hafenmeile oder Musicals poliere, „wird der Stellenwert des Kiezes von den Politikern enorm vernachlässigt.“

Hamburger Kiez: Unternehmer schlagen Alarm

Das Trio weiß, wovon es spricht. Susanne Faerber, eine promovierte Betriebswirtin, wirkt als geschäftsführende Gesellschafterin des Panoptikums am Spielbudenplatz – in fünfter Generation. „Unser 1879 gegründetes Wachsfigurenkabinett ist neben der Kirche eine der ältesten Institutionen St. Paulis.“ Der ehemalige Kickbox-Weltmeister Carsten Marek galt in wilderen Zeiten als gut vernetzter Kiezgrande. Als Unternehmer betreibt er seit 2016 unter anderem die legendäre „Ritze“ sowie neuerdings einen Grill ähnlichen Namens in der Nachbarschaft.

Blick auf die Reeperbahn im Stadtteil St. Pauli
Blick auf die Reeperbahn im Stadtteil St. Pauli © Thorsten Ahlf | TA CAPS

Dem Sparclub der Ritze, einer feuchtfröhlichen Runde von 50 dem Stadtteil verbundenen Hamburgern, gehört auch der hanseatische Unternehmer Jan-Peter Stölken an. Der vielfältig engagierte Diplom-Kaufmann boxte als Kampfsportler in den 1980er-Jahren im Keller der Ritze. Er ist beteiligt an der Cocktailbar Story (Reeperbahn 66) sowie an der Clubdisco Noma mit der Hausnummer 148. Auch Stölken hat von jeher ein Herz für den Kiez – nicht nur wegen der Geschäftsanteile, sondern wegen der Verbundenheit zu seiner Geburtsstadt. Den jüngsten Knock-out für den Live-Club Molotow versteht er als Breitseite gegen den Charme des Stadtteils: „Das ist ein weiteres Warnsignal.“

Unser Quartier darf nicht zu einer gesichtslosen Betonlandschaft mit viel zu vielen Kiosken verkommen.
Carsten Marek - Wirt der „Ritze“

„Meist sind die neuen Hotels gesichtslos“, ergänzt Susanne Faerber. „Die Reeperbahn ist zu einer grauen, tristen Meile verkommen, der es an buntem Licht mangelt.“ Und noch was: „Einstmals war St. Pauli ein Schmelztiegel, ein urbanes Paradies für schillernde Vögel aus aller Welt.“ Diese Vielfalt gehe verloren. Entsprechend dünn wird die Luft im Viertel für Originale. Hamburgs Werbung setze auf St. Pauli als Magneten für Tourismus. Dabei seien Farbkraft und pulsierende Kreativität stark bedroht.

Hamburger Kiez: Der Boom der Kioske ist den Gastronomen ein Dorn im Auge

Carsten Marek stimmt zu. „Indem alteingesessene Geschäfte verdrängt werden, nimmt die Eintönigkeit zu.“ Individuelle Oasen im Grau des Kiosk-Einerleis, grellbunte Reklametafeln oder pfiffige Bars haben aus seiner Sicht einen immer schwereren Stand. „Ja, der Boom der Kioske ist uns traditionellen Gastronomen ein Dorn im Auge“, sagt Marek. Kollegen hätten kürzlich rund 50 Kioske gezählt. Viele haben quasi rund um die Uhr geöffnet, dürfen mit wenig Personal viel verkaufen, haben außer Haus nur sieben und nicht wie andere 19 Prozent Mehrwertsteuer zu entrichten und brauchen sich um sanitäre Anlagen nicht zu kümmern. „Wenn die Politik nicht rasch etwas ändert, geht St. Pauli den Bach runter“, mahnt Marek.

Unisono betont das Trio, diese Kritik an der Entwicklung des Kiezes ausschließlich aus Zuneigung zum Stadtteil so freimütig zu äußern. Sie sind in der Interessengemeinschaft St. Pauli und Hafenmeile aktiv. Hinter vorgehaltener Hand fallen dort oft markigere Worte.

Der Kiez-Gipfel: Carsten Marek (Ritze), Susanne Faerber (Panoptikum) und Jan-Peter Stölken (Storys) vor der Ritze
Der Kiez-Gipfel: Carsten Marek (Ritze), Susanne Faerber (Panoptikum) und Jan-Peter Stölken (Storys) vor der Ritze © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Zum Beispiel gegen zunehmende Bürokratie und behördliche Auflagen, die viele im Viertel als Wegbereiter für ein gesichtsloses Erscheinungsbild und optische Tristesse verstehen. Zwar sei es auf der Reeperbahn und in einigen Seitenstraßen am Wochenende „meist rammelvoll“, doch handele es sich überwiegend um Partyvolk, „das auf den von Glassplittern übersäten Fußwegen lautstark in Gruppen auf Achse ist, Bier und andere Alkoholika im Gehen trinkt, aber kaum in Bars, Tanzlokale oder klassische Gaststätten einkehrt“.

Hamburger Kiez: Verkommt St. Pauli zur Saufzone?

Das Stichwort der Behördenauflagen lockt Kaufmann Jan-Peter Stölken aus der Reserve. „Der Genehmigungswahnsinn macht St. Pauli kaputt“, behauptet er. In der Außenwerbung gebe es zu wenig Gestaltungsspielraum: „Die große Freiheit bunter Reklametafeln, international ein Markenzeichen St. Paulis, ist einer Leere gewichen.“ Wer mit Fantasie von einheitlicher Norm abweichen wolle, werde von Ämtern ausgebremst. Jeder der drei Gäste am Ritze-Stammtisch hat Fälle parat, wie kreative Werbung im Keim erstickt wurde. Und: Die Stadt lässt sich Genehmigungen, werden diese denn erteilt, teuer bezahlen. „Hamburg muss wirklich aufpassen“, warnt Carsten Marek, „dass der Stadtteil St. Pauli nicht zur Saufzone verkommt.“ Traditionelle Kneipenkultur habe es immer schwerer. Dr. Susanne Faerber vom Panoptikum betrachtet den Sachstand ähnlich besorgt. Im Gegensatz zur geschäftlichen Entwicklung ihres bald 150 Jahre alten Wachsfigurenkabinetts. In den 1990er-Jahren kamen im Schnitt 100.000 Besucher im Jahr, zuletzt waren es mehr als 200.000.

Cornern muss verboten werden
Susanne Faerber - Geschäftsführende Gesellschafterin des Panoptikums am Spielbudenplatz

Mit dem Kiez als touristischem Leuchtturm der Hansestadt geht es damit längst noch nicht aufwärts. Motto: Masse ist nicht gleich Klasse. Zudem Kollege Jan-Peter Stölken ein weiteres Problem betrachtet: „Für immer mehr Menschen wird es schick, auf St. Pauli zu wohnen und zu leben.“ Folgen seien steigende Mieten, ein Trend zur Schickimickikultur sowie der Hang zu Beschwerden. „Für Gastronomen ist das Geschäftsleben im Viertel schwieriger geworden.“ Von Kioskbetreibern abgesehen. Aber das hatten wir schon. Vom rigorosen Durchsetzen des offiziell gültigen Glasflaschenverbots sei auf der Bannmeile zwischen Millerntor und Nobistor aus Sicht der angestammten Geschäftsleute nichts zu bemerken.

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Was muss denn passieren, um St. Pauli zu neuer Blüte zu verhelfen – im Einklang mit dem touristischen Ehrgeiz des Senats? Das Trio berät kurz, verständigt sich sodann auf vier Grundsätze, die rasch umgesetzt werden können – und ihrer Auffassung nach müssen. Weniger Kioske. Verkaufsverbot für Alkohol außer Haus nach 20 Uhr. Generelles Alkoholverbot auf der Straße ab 20 Uhr. „Und bitte mehr Licht und Buntheit“, sagt Susanne Faerber im Namen der Crew. Aus Gesprächen mit Gewerbetreibenden wisse man, dass die Forderungen mehrheitsfähig sind. „Wenn Politik und Behörden mitziehen“, ergänzt Carsten Marek. Die Polizei habe zwischen den Worthülsen eines manchen Politikers und der praktischen Umsetzung einen harten Stand.

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„Politiker müssen begreifen, dass der Stellenwert eines Wahrzeichens auf dem Spiel steht“, sagt Jan-Peter Stölken zum Ausklang eines unter dem Strich gar nicht so harmonischen Beisammenseins. Hamburger Höhepunkte wie das Minia­tur Wunderland, die Elbphilharmonie, der Fischmarkt oder die facettenreiche Welt der Musicals leben letztlich vom Kiez. „Wir müssen gemeinsam höllisch auf der Hut sein, dass unsere Seele nicht verloren geht“, sagt Carsten Marek bei einem finalen Schluck Mineralwasser. „Cornern muss verboten werden“, fordert Susanne Faerber. Intensives Herumlungern an Straßenecken mit reichlich Alkohol aus dem Supermarkt. „Schöne Worte aus Rathaus und Bezirksamt helfen aktuell nicht weiter“, fügt Jan-PeterStölken hinzu.

In diesem Moment öffnet sich die Tür der Ritze abermals. Eine fröhliche Gästegruppe hat Durst. Von Neugier an der Kiezinstitution Ritze ganz zu schweigen. Herzlich willkommen! „Glücklicherweise keine Führung“, flüstert das Trio am Stammtisch. Wie so oft, besonders am Wochenende. Viel zu oft, meinen viele. „Die Show wird zu hoch bewertet“, sagt Carsten Marek. „Manchmal fühlt man sich wie im Zoo“, berichtet Susanne Faerber. Jan-Peter Stölkens Schlusswort findet einheitlich Zustimmung: „St. Pauli darf nicht zum Disneyland mutieren.“ Will keiner. Passiert aber teilweise gerad­e.