Hamburg. Esther Lindemann war die erste Frau an der Davidwache. Über ihre Einsätze ist ein Buch erschienen, ProSieben widmet ihr eine TV-Doku.
- Esther Lindemann war die erste Polizistin auf der Hamburger Davidwache
- Welche Sprüche sie sich von männlichen Kollegen anhören musste
- Luden nannten sie „Zwerg in Uniform“, aber die Süddeutsche verschaffte sich Respekt
- Die vier Jahre auf dem Kiez seien „körperlich und psychisch“ herausfordernd gewesen
An ihren ersten Tag auf der Davidwache, den 31. August 1981, erinnert sich Esther Lindemann, Hamburgs „erste Reeperbahn-Polizistin“ noch, als seien nicht schon mehr als 40 Jahre vergangen: „Kiez und Polizei, das war ja die doppelte Männerdomäne.“ Doch Esther Lindemann, 21 Jahre jung und zierliche 1,58 Meter klein, war von der ersten Sekunde an vom Treiben auf St. Pauli fasziniert. Und ließ sich auch dann nicht abschrecken, als ein Macho-Kollege an der Davidwache, intern als „Rammbock-Rudi“ verschrien, ihr zubrüllte: „Püppi, schmink dich noch schnell, wir wollen auf Streife.“
Jetzt hat Esther Lindemann, mittlerweile 66 Jahre alt und nach einer erfolgreichen Laufbahn als Kommissarin im Ruhestand, von Autor Rob Lampe auf mehr als 300 Seiten aufschreiben lassen, was sie damals in den 1980er-Jahren „Mitten im Rotlicht“, so der Titel des Buches, erlebt hat. Der Fernsehsender ProSieben zeigt in seiner Sendung „taff“ in dieser Woche bis zum 11. Oktober (täglich um 17 Uhr) die Doku „Reeperbahn-Legenden“, in der Esther Lindemann in tragender Rolle vorkommt.
Reeperbahn Hamburg: Esther Lindemann kam aus dem Schwarzwald an die Davidwache
„Der Job war eine harte Nummer. In jeder Schicht die einzige Frau mit 15 Männern. Und dann so jung und mit süddeutschem Dialekt. Ich hatte nicht gerade die tollschten Voraussetzungen“, sagt sie dem Hamburger Abendblatt am Telefon, und der Südschwarzwald, wo sie behütet aufwuchs, schwingt immer mit.
Nach dem Abitur 1979 sei ihr das 900-Seelen-Örtchen, in dem sie mit Schwester und Bruder eine glückliche Kindheit verbracht hatte, „zu eng, zu klein“ geworden. „Ich wollte in die große Stadt, Abenteuer erleben.“ Bei der Berufsberatung auf dem Arbeitsamt erfährt Esther Lindemann, dass die Polizei Hamburg Nachwuchs sucht. Sie bewirbt sich, besteht die Aufnahmeprüfung, kommt an die berühmt-berüchtigte Davidwache. Die Freude des Vaters, der bei der Gemeinde angestellt ist, und der Mutter, die bei der Post arbeitet, hält sich in Grenzen: „Ihr kleines Mädchen auf der Reeperbahn? Die waren, ehrlich gesagt, schockiert.“
Esther Lindemann selbst war vor allem fasziniert vom schrillen Treiben auf dem Kiez, von den Prostituierten, die gleich neben der Davidwache ihre Dienste anboten, von Live-Sex-Shows auf der Großen Freiheit. „Das war eine komplett andere Welt, aber ich wusste: Hier will ich bleiben!“ Und das tut sie auch, vier Jahre lang. Pendelt fast täglich von ihrer kleinen Wohnung in Hausbruch zum Dienst auf die Reeperbahn.
Reeperbahn in den 80ern: Die „Nutella-Bande“ kontrollierte das Kiez-Geschäft
Es war die Zeit der Clans, die „Nutella-Bande“ kontrollierte einen Großteil der Kiez-Geschäfte. „Als Polizisten kannten wir die Luden, die Wortführer der Clans. Und man kam, anders als heute, miteinander aus“, erzählt Esther Lindemann. Natürlich hätten die Zuhälter und Clan-Chefs damals auch gesagt „Am liebsten sehen wir die Bullen von hinten“, aber man habe einander in bestimmten Situationen auch gebraucht. „Klar, anfangs haben die mich, den Zwerg in Uniform, nicht ernst genommen. Aber ich hatte auch tolle Kollegen, die gesagt haben: Hey, sie gehört zu uns, und ihr macht, was sie sagt.“ Bis heute habe sie zu vielen Kollegen von damals guten Kontakt.
Doch der Dienst an der Davidwache sei auch körperlich und psychisch fordernd gewesen, gibt Esther Lindemann zu. „Das bleibt dir ja nicht in der Uniform stecken, was du da erlebst.“ Eine Prostituierte, Karina, sei von ihrem Zuhälter geschlagen und schwer misshandelt worden. Bei einem Einsatz lernen die beiden Frauen, etwa im selben Alter, einander kennen. „Ich wollte Karina überreden, aus dem Milieu auszusteigen. Ich habe über Monate versucht, ihr zu helfen – am Ende konnte oder wollte sie nicht, es war schwierig.“
Reeperbahn Hamburg: Angst vor Aids sei auf dem Kiez präsent gewesen – „wir wurden ja auch bespuckt“
Auch Aids sei in den 1980er-Jahren ein großes Thema, eine große Angst gewesen. „Wenn wir bei einer Festnahme bespuckt wurden, waren wir in Sorge. Wir sind dann später ins Hafenkrankenhaus und haben uns testen lassen.“ Auch die Drogenkriminalität war ausgeprägt, wenn auch anders als heute. „Wenn wir jemandem in die Tasche gegriffen haben, musste man immer aufpassen, dass man nicht in eine Spritze fasst.“
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Gern wäre Esther Lindemann an der Davidwache geblieben, doch eine Beförderung sei dort damals nicht möglich gewesen, erzählt sie. „Da war ich kurz in einem inneren Konflikt, habe mich dann aber doch für die Karriere und die gehobene Laufbahn entschieden.“
Reeperbahn Hamburg: Die Zeit an der Davidwache habe sie fürs Leben geprägt, sagt Lindemann
Sie arbeitet noch einige Jahre an der Wache Großneumarkt, ehe sie 1992 „der Liebe wegen“ zurück in die alte Heimat nach Freiburg zieht, wo sie auch heute noch wohnt. „Hier in Baden-Württemberg habe ich erst bei der Autobahnpolizei gearbeitet, was für mich nach den Hamburger Jahren zugegebenermaßen etwas langweilig war. Später war ich dann beim MEK.“
Ob sie sich als Vorreiterin des Feminismus bei der Polizei sehe? „Das weiß ich nicht, aber die Zeit an der Davidwache hat mich geprägt.“ Sie habe gelernt, sich durchzusetzen, ihre Ziele zu erreichen. „Mich kann im Prinzip nichts erschüttern“, sagt Esther Lindemann. „Ich habe gelernt: Auch das Unmögliche ist möglich. Und jedem Menschen, auch wenn er ganz fein aussieht, ist alles zuzutrauen.“
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