Hamburg. Vor Gericht muss sich ein Mann verantworten, der einem anderen eine Überdosis spritzte. Wusste er, dass die Menge zu groß war?

Sie hat am eigenen Leib erfahren, dass das Leben beschwerlich und hart sein kann. Anna F. (alle Namen geändert) konsumiert seit mehreren Jahren Rauschgift, und sie kennt Szene um die Drogenberatungsstelle Drob Inn unweit des Hauptbahnhofs schon lange. Doch was sie dort am 24. Mai erlebte, macht die 42-Jährige fassungslos: „Mich hat geärgert, dass da jemand im Sterben liegt und er nichts unternimmt“, sagt die Hamburgerin.

Mit „er“ meint sie Amir G., einen 48-Jährigen, der jetzt im Prozess vor dem Schwurgericht wenige Meter von der Zeugin entfernt auf der Anklagebank sitzt und den sie kritisch mustert. Denn Amir G. soll für den Tod eines anderen Mannes verantwortlich sein.

Anklage: Körperverletzung mit Todesfolge

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten unter anderem Körperverletzung mit Todesfolge vor. Den Ermittlungen zufolge hat Amir G. vor dem Drob Inn mindestens zwei Einheiten Heroin und Kokain auf einem Löffel aufgekocht und auf zwei Spitzen aufgezogen.

Der Angeklagte (l.) neben seinem Anwalt Shahryar Ebrahim-Nesbat im Gerichtssaal.
Der Angeklagte (l.) neben seinem Anwalt Shahryar Ebrahim-Nesbat im Gerichtssaal. © dpa | Jonas Walzberg

Dann injizierte er sich eine selbst, spritzte laut Anklage die andere Menge einem 43-Jährigen. Dabei sei es Amir G. darauf angekommen, bei dem anderen Mann „einen Rausch zu verursachen“. Doch das Opfer erlitt demnach einen Herz-Kreislaufstillstand und starb zwei Tage später.

Staatsanwaltschaft: Angeklagter wusste, dass Menge zu groß war

Dass dies passieren würde, hätte sich Amir G. „aufdrängen müssen“, argumentiert die Staatsanwaltschaft weiter. Schließlich sei der 48-Jährige darauf hingewiesen worden, dass die Rauschgiftmenge zu groß für den anderen Mann sei, da dieser vorher noch nie Drogen konsumiert habe. Diese Warnung habe der Angeklagte jedoch „aus besonderer Gleichgültigkeit außer Acht“ gelassen.

Angeklagter soll Sterbendem Geldbörse gestohlen haben

Neben Körperverletzung mit Todesfolge ist der gebürtige Afghane auch noch wegen leichtfertiger Todesverursachung durch Verabreichen von Betäubungsmitteln sowie Diebstahl im besonders schweren Fall angeklagt. Dem nach der Intoxikation mit Drogen bewusstlosen Opfer soll er unter anderem die Geldbörse mit Papieren und 48 Cent Bargeld gestohlen zu haben.

Beschuldiger streitet den tödlichen „Schuss“ ab

Amir G. ist ein Mann mit wachen Augen und offenem Blick. Zu den Vorwürfen wolle sich sein Mandant nicht äußern, sagt der Verteidiger des 48-Jährigen. Im Ermittlungsverfahren hatte der Verdächtige über seinen damaligen Anwalt bestritten, dem anderen Mann die Spritze verabreicht zu haben.

Die Zeugen, die ihn dabei angeblich gesehen haben wollen, seien im Streit mit ihm. Auch gestohlen habe er nichts — sondern die Habseligkeiten des 43-Jährigen in einen Rucksack gesteckt. Diesen habe dann die Polizei mitgenommen.

Zeugin: „Angeklagter kümmerte sich nicht um Sterbenden“

„Da ist jemand gestorben an einer Überdosis“, erzählt die Hamburgerin Anna F. über ihre Erlebnisse am Drob Inn. Ein Bekannter aus der Szene habe ihr gesagt, dass es Amir G. gewesen sei, der „den Mann totgemacht hat“. Sie habe nicht selbst gesehen, wer dem 43-Jährigen die Spritze gesetzt habe.

Doch ihr Bekannter habe ganz deutlich auf Amir G. gezeigt. Dieser habe angesichts des Sterbenden „dagestanden und war so unberührt, als hätte ihn das gar nicht interessiert. Dass er ihm nicht geholfen hat, das war zu viel für mich.“ Dabei habe der Angeklagte seinerzeit nach ihrem Eindruck „ganz genau mitbekommen, was da passiert“.

Was die Sozialarbeiterin zum Drob Inn sagt

Maria B. ist seit Jahren als Sozialarbeiterin am Drob Inn beschäftigt. Die 46-Jährige erzählt, dass an jenem schicksalhaften Tag wohl um die 120 Menschen auf dem Vorplatz der Drogenhilfeeinrichtung versammelt gewesen seien — keine ungewöhnliche Menge für einen frühen Nachmittag. Plötzlich habe sie einen Kollegen von draußen rufen hören, „dass da ein Mann bewusstlos liegt“, erzählt die Zeugin. Sie sei sofort ins Freie geeilt, um den Kollegen bei den Erste-Hilfe-Maßnahmen zu unterstützen.

Dabei habe sie festgestellt, dass der Bewusstlose keine Sauerstoffsättigung und keinen Puls hatte. „Ich bin mir sicher, dass er konsumiert hat, weil er aus dem Mund geschäumt hat“, berichtet Maria B. „Das ist häufig bei Überdosierung.“ Einstichstellen habe sie bei dem Mann allerdings nicht bemerkt. Überhaupt habe sie den 43-Jährigen im Umfeld des Drob Inn noch nie zuvor gesehen.

Vor dem Drob Inn ist oft jemand bewusstlos

Doch viele andere, die beim Drob Inn Hilfe suchen, kennt Maria B. schon lange. So auch den Angeklagten sowie weitere Konsumenten, die den dramatischen Zwischenfall am 24. Mai beobachtet haben wollen. Dass es unter den Hilfesuchenden auch mal zu Streitigkeiten komme, sei nicht selten.

Auch dass Menschen im Umfeld des Drob Inn bewusstlos werden, komme immer mal vor, bestätigt die Sozialarbeiterin auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters. Doch in der Regel könne den Ohnmächtigen geholfen werden, indem bei ihnen die Maskenatmung angeschlossen werde. „Dann ist es meist so, dass wir die zurückkriegen.“

Drob Inn versucht, Menschen ins Leben zurückzuholen

Die Menschen ins Leben zurückbringen — auch im übertragenen Sinne – so kann man die Arbeit von Maria B. und ihren Kollegen beim Drob Inn verstehen. „Wir versuchen, Abhängige aus der Szene rauszubekommen“, erzählt die 46-Jährige. Es gehe um die Versorgung der Drogenkonsumenten, auch im medizinischen Sinne. Ebenso sei dort Spritzentausch möglich.

Auch ein Nasszellenbereich, wo Abhängige kostenlos duschen können, sei vorhanden und ein anderer, wo heiße Getränke bereitstehen. „Die Leute können dort auch Ruhe finden.“ Allerdings gelange man nicht so ohne weiteres ins Drob Inn. Die Tür werde beaufsichtigt, die Leute müssten sich anstellen. „Wenn wir die nicht kennen, fragen wir, ob sie zur Zielgruppe gehören — also ob sie konsumieren.“ Der Prozess wird fortgesetzt.