Hamburg. Die Erinnerung an die Operation Gomorrha bleibt im Bild der Stadt überraschend leblos. Gibt es eine Unfähigkeit zu trauern?

Das Unkraut wächst kniehoch, Dornen überwuchern die Treppenstufen im Carl Stamm Park; unter den Bänken liegen Kippen und Schnaps­flaschen, Schmierereien machen die Tafel unlesbar. So sieht das Gedenken an die Opfer der Operation Gomorrha in Rothenburgsort aus. Im Umkreis des kleinen Denkmals ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben, kein Altbau schmückt das Antlitz des Stadtteils, er ist am 28. Juli 1943 in Trümmer gefallen. Ein verkleinertes Terrassenhaus des Hamburger Künstlers Volker Lang soll an die Nacht erinnern, als ganze Stadtteile starben. Die Hamburger haben es vergessen.

Die Operation Gomorrha war der bis dahin schwerste Angriff der Luftkriegsgeschichte: In sechs Großangriffen regneten binnen elf Tagen insgesamt 8500 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf die Hansestadt hernieder. Mindestens 35.000 Menschen starben, 125.000 wurden verletzt, jede zweite Wohnung der Stadt zerstört. Kein Angriff auf eine deutsche Stadt war verheerender – nicht einmal der auf Dresden 1945, wo nach neuesten Schätzungen 25.000 Menschen ihr Leben ließen.

Doch anders als in Dresden sind die Erinnerungen an die Sommernächte des Jahres 1943 verschüttet, verdrängt, vergessen. Das geschulte Auge sieht die Narben der Bombardements, das ganze Stadtteile wie Billbrook, Hammerbrook oder Rothenburgsort von der Landkarte radierte. Wirkliche Erinnerungsorte aber finden sich kaum – angesichts der verheerenden Zerstörungen darf das überraschen. „In der Stadt sind die Erinnerungen – abgesehen von der Turmruine St. Nikolai – seltsam unpräsent. Man muss Spuren geradezu suchen“, sagt auch der Psychoanalytiker Ulrich Lamparter, der seit Jahren mit Bombenkriegsopfern arbeitet. „Es war lange schwer, darüber zu sprechen, weil es keiner hören wollte – zumindest in der Öffentlichkeit.“

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    In der Innenstadt ragt der Turm der St.-Nikolai-Kirche als Torso und Mahnmal des Krieges 147 Meter hoch in den Himmel. Das Meisterwerk des britischen Architekten Gilbert Scott aus dem 19. Jahrhundert war in den Nächten der Operation Gomorrha die Zielmarke und wurde schwer zerstört. In den Kellergewölben gibt es ein feines, aber kleines Dokumentationszen­trum. Seine Existenz hat es privaten Spendern zu verdanken; eine Herzensangelegenheit der Politik war es nie so recht.

    Das kleine Denkmal der Künstlerin Hildegard Huza, das an die 370 Toten beim Angriff auf den Luftschutzbunker unter dem Kaufhaus Karstadt an der Hamburger Straße erinnert, steht auf einer Verkehrsinsel. Und sagt den Menschen nichts (mehr). Abendblatt-Leser Georg Schulz schildert eine verstörende Begegnung an dem Denkmal mit der gekrümmten steinernen Figur: „Vor mir eine Mutter mit kleinem Kind an der Hand: „Mama, macht der da Yoga?“ Verbrannt. Verschüttet. Vergessen?

    Auf dem Ohlsdorfer Friedhof steht das Ehrenmal für die Hamburger Bombenopfer. Die Skulptur des bekannten Künstlers Gerhard Marcks zeigt die „Fahrt über den Styx“. Eichentafeln erinnern an die zerstörten Stadtteile, konkrete Namen hingegen fehlen. Das Gedenken bleibt abstrakt, entrückt. Präsenter in der Stadt sind die Tontafeln mit dem Hamburger Wappen, die bei Nachkriegsbauten an die Zerstörung 1943 erinnern. Wichtiger als das Gedenken aber ist die zweite Botschaft: „Wiederaufgebaut“. Sie kündet vom Wirtschaftswunder und wendet den Blick nach vorne.

    Politisches Interesse?

    Hinter dieser Unfähigkeit zu trauern, mag ein politisches Interesse stecken­. Nach dem Krieg sollte die Bundesrepublik schnell in den Westen integriert werden – da störte ein übermäßiges Gedenken. Und, noch wichtiger: Die Deutschen waren zweifellos die Täter­ im verheerenden Zweiten Weltkrieg, sie haben das Massenmorden auf den Schlachtfeldern vom Zaun gebrochen, einen rücksichtslosen Krieg geführt und im Holocaust sechs Millionen Juden ermordet. Darf ein Volk von Tätern zugleich Opfer sein?

    Warum eigentlich nicht?, fragt der Autor Jörg Friedrich. Und sagt: „Ganz Dresden oder Hamburg haben für eine Schuld gebüßt? Also selbst die getöteten Säuglinge oder die Tiere im Zoo?“ Heute sind alle Zivilisten aktueller Kriege, ob im Jemen, im Irak oder in Syrien natürlich Opfer – und niemand fragt nach ihren Verstrickungen in blutige Regime. Niemand käme noch darauf, zivile Tote gutzuheißen. Das ist ein zivilisatorischer Fortschritt.

    Nur ist er nicht bei allen angekommen: Bei manchen „Antifaschisten“ und selbst bei Politikern ist der Slogan „Bomber Harris. Do it again“ ein Hit. Die heutige Linken-Politikerin Julia Schramm twitterte „Sauerkraut, Kartoffelbrei – Bomber Harris, Feuer frei“, der Berliner Grünen-Politiker Matthias Oomen­ zwitscherte zum Dresden-Angriff „Do it again“ – der grüne Landesverband distanzierte sich. Hinter diesen wirren Tweets mag die Sorge stecken, dass Rechtsradikale den Bombenkrieg für sich instrumentalisieren. Sie warnen davor, dass Deutsche sich vor allem als Opfer inszenieren – und damit Geschichte verdrehen. Doch in ihrer Menschenverachtung diskreditieren diese „Antifaschisten“ die richtige Sache. Auch in Hamburg verteidigen manche übereifrig den Bombenkrieg. Aktivisten störten 1993 eine Gedenkveranstaltung im Michel und entrollten das Plakat „Operation Gomorrha – es gibt nichts zu trauern“. Daraufhin kam es im Michel zu Handgreiflichkeiten.

    Diente den britischen Bomberpiloten als Zielmarke: die St.-Nikolai­Kirche
in der Altstadt. Heute steht nur noch die Turmruine
    Diente den britischen Bomberpiloten als Zielmarke: die St.-Nikolai­Kirche in der Altstadt. Heute steht nur noch die Turmruine © HA | Marcelo Hernandez

    Lange war im Zusammenhang mit den verheerenden Bombenangriffen nur von der „Katastrophe“ die Rede, einem Begriff, den Gauleiter Karl Kaufmann noch während der Angriffe benutzt hatte – und damit die Angriffe aus einem historischen Kontext gerissen hatte. Sie waren nicht mehr Folge des von Deutschland begonnenen „totalen Krieges“, sondern quasi Folge „höherer Gewalt“. Die Nazis warfen ihre Propagandamaschinerie sofort an. Schon am 26. Juli hieß es in der Hamburger Zeitung: „Die Fratze des ewigen jüdischen Feindes starrte hinter Stahl und Phosphor, hinter Tod und Brand auf uns, und wir hatten uns zu bewähren.“

    Oder: „Die Hamburger haben in der Stunde der Bewährung gezeigt, daß sie Hamburger sind, und sie sind es geblieben, sie haben nicht kapituliert, sie haben keine Panik aufkommen lassen, sie haben durchgehalten.“ Hass und Durchhalteparolen. Am Totensonntag 1943 gab es eine große Gedenkfeier mit einem eigens komponierten Lied: „So hat sich das Volk gefunden/und für wenige Sekunden/wird das Herz des Stärksten weich/Doch nun höher die Standarten/Deutschland soll nicht länger warten/stehe fort, du heil’ges Reich“. Der Tod von Zehntausenden als Anstiftung zum Weiterkämpfen.

    „Ich bin in den Krieg hineingewachsen, er war Normalität“

    Nach dem Krieg überlagerte bald die Ideologie das Gedenken. Die KPD etwa erinnerte 1953 vor 5000 Anhängern an den „angloamerikanischen Bombenterror“, eine Vokabel direkt von den Nazis entlehnt. Dezidierter äußerte sich Bürgermeister Max Brauer, der selbst vor den Nazis hatte fliehen müssen. Er sortierte die Operation Gomorrha in die historischen Abläufe ein und sprach bei der großen Gedenkfeier zunächst vom „Tod der friedlichen Bürger von Guernica, Rotterdam und Coventry.“

    Stets, das arbeitet der Historiker Malte Thiessen in seinem Buch „Eingebrannt ins Gedächtnis“ heraus, steht das Gedenken in einem zeitgeistigen Kontext. Klaus von Dohnanyi etwa kritisierte die Operation Gomorrha 1983 mit den Worten „Aber war der Bombenkrieg ein geeignetes, ein vertretbares Mittel? Er war es nicht.“ Er bettete diese Botschaft ein in eine Warnung vor dem Atomkrieg. In diese Zeit fiel die große Debatte um die Nachrüstung.

    Zehn Jahre später stand Deutschland unter Schock wegen mehrerer rechtsradikaler Morde – in Solingen waren im Mai 1993 bei einem Anschlag auf ein von Türken bewohntes Haus fünf Menschen ermordet worden. Der damalige Bürgermeister Henning von Voscherau sagte beim Festakt: „In Zeiten, in denen der innere Frieden in Deutschland durch rechtsextreme Gewalttäter bedroht wird, will Hamburg auch daran erinnern, dass die Ereignisse vom 25. Juli bis 3. August 1943 kein isoliertes und unvermitteltes Naturereignis gewesen sind.“

    Thema erfährt zu Gedenktagen Aufmerksamkeit

    Zur Jahrtausendwende löste der zu früh verstorbene Literat Winfried Georg Sebald mit „Luftkrieg und Literatur“ eine Debatte aus. In seinem Essay kritisierte er das Schweigen, mit dem die Literatur und die Gesellschaft die Zerstörung deutscher Städte im Bombenkrieg übergangen hätte. Tatsächlich gibt es neben eindrücklichen Erzählungen von Wolfgang Borchert („Bill Brook“) und Hans Erich Nossack („Der Untergang“) nur wenige bekannte Werke über diese Katastrophe. Der bekannte Literaturkritiker Volker Hage widersprach ihm in der „Sebald-Debatte“: „Das beklagte Tabu in der literarischen Produktion hat es so nie gegeben, nicht die deutsche Literatur, sondern deren mangelnde Rezeption – gerade in der Nachkriegszeit – hat den Luftkrieg unterschlagen.“ Das Interesse schürte dann der Bestseller „Der Brand“ von Jörg Friedrich. Er löste 2002 eine kurze wie heftige Mediendebatte vom „Spiegel“ bis zu „Geo“ aus. Indes, es dauerte nicht lange, da war das Thema aus den Schlagzeilen.

    Thiessen kommt in seiner Analyse zum etwas überraschenden Resümee: „Wie kein anderes Ereignis des 20. Jahrhunderts, vielleicht sogar der Stadtgeschichte überhaupt, stand und steht Gomorrha im Fokus der Hamburger Erinnerungskultur“, wie er 2013 in einem Aufsatz für eine Broschüre des Mahnmals St. Nikolai schrieb. Das mag im Rahmen einer Recherche ein verständlicher Eindruck sein, deckt sich weder mit den Erfahrungen im Stadtbild noch der Opfer. „Das wollte niemand hören“, sagt Zeitzeuge Peter Schütt.

    Tatsächlich erfährt das Thema zu den Gedenktagen eine große Aufmerksamkeit, um dann wieder im Dunkel der Geschichte zu verschwinden. Konzen­trierte sich das Gedenken nach dem Krieg zunächst fast nur auf die Opfer, hat sich die Wahrnehmung zuletzt verschoben – von den Bombenopfern zu den Opfern nationalsozialistischer Gewalt. 2005 wurde endlich die Gedenkstätte Neuengamme eingerichtet – bis dahin wurde das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers als Gefängnis genutzt. Und auch der Festakt des Senats steht in der neuen Sichtweise — heißt die Ausstellung im Mahnmal doch: „Vor uns lagen nur Trümmer“ – Einsatz von KZ-Häftlingen nach der Operation Gomorrha“. Aller Opfer des Faschismus zu gedenken kann helfen, eine Botschaft aus dem Unfassbaren zu destillieren: Nie wieder!

    Zum Weiterlesen
    Mahnmal St. Nikolai: Gomorrha 1943, 132 Seiten, 5 Euro; Malte Thiessen: „Eingebrannt ins Gedächtnis, Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943–2005“, Dölling und Galitz, 502 Seiten, 30 Eur
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