Hamburg. Als Hamburg von Bomben zerstört wurde: Jörg Friedrich schildert, was der Krieg aus Menschen macht. Teil 12 der Gomorrha-Serie.

Jörg Friedrich erinnert sich noch genau an seine ersten Lesereisen damals vor 16 Jahren, als „Der Brand“ gerade erschienen war. Es ist vielleicht das ultimative Buch über den „Bombenkrieg in Deutschland von 1940 bis 1945“ (Propyläen Verlag), doch es las sich ganz anders, als man es bis dahin von Werken kannte, die sich mit dem Zweiten Weltkriegs auseinandersetzten oder, wie im Fall von „Der Brand“, mit einem Teil­aspekt der Kriegsführung.

In diesem Fall mit dem Luftkrieg und der angestrebten Vernichtung der deutschen Städte und ihren Bewohnern: „Die ersten Gäste saßen mindestens schon eine Viertelstunde vor dem Beginn der Lesung auf ihren Plätzen, immer in der ersten oder zweiten Reihe. Wenn ich dann fünf Minuten gelesen hatte, fiel diesen damals 70- bis 80-Jährigen das Kinn auf die Brust, nach sieben Minuten klappten sie die Augen zu, und nach acht Minuten rannen ihnen Tränen über die Wangen. Aber ich erzählte keinen Vorgang, der vor langer Zeit passiert war, sondern ich beschrieb ihre nicht verheilten Wunden am Leib und in der Seele. Bis dahin waren sie mit ihrem Schicksal alleine gelassen worden.“

Über Umwege zum Journalismus

Das habe er damals gelernt, sagt der Publizist: „Bombenkrieg ist nicht damals – Bombenkrieg ist bis heute. Die Traumatisierung, die diese Stadtmenschen während der alliierten Luftangriffe – die Landbevölkerung war davon ja so gut wie gar nicht betroffen – erfahren haben, war bis dahin vom eigenen Volk niemals artikuliert worden.“ Das unterscheide diese Menschen von denjenigen, die beispielsweise ein Konzentrationslager überlebt haben. Denn für sie gebe es „wenigstens ein Narrativ, eine sinnstiftende Erzählung“. Ihr Schicksal sei zum Bestandteil einer historischen Erfahrung geworden, die von der Schicksalsgemeinschaft getragen und erläutert werde.

„Ich sah große Leichenberge auf dem Heidenkampsweg“

Der gebürtige Essener, der zunächst als Schauspieler und späterer Regie­assistent von Helmut Käutner über Umwege zum Journalismus kam, empfängt uns in einer großzügigen, typischen Berliner Wohnung in Charlottenburg, serviert Croissants, dazu eine persönliche Schwarzteemischung. „Ich habe keine akademische Karriere gemacht, sondern mir den ‚Historiker‘ in 20 Jahren selbst angeeignet“, lächelt er. „Der Vorteil daran ist, dass man ohne eine Universität und die entsprechenden Gelder und Abhängigkeiten im Rücken sehr viel neugieriger sein und sich selbst immer wieder Fragen stellen kann, auch unangenehme.“

Dabei habe er unter anderem festgestellt, dass ,Der Brand‘ auf die verschiedenen Gesellschaften sehr unterschiedlich gewirkt habe. „Die Erlebnisgeneration des Bombenkrieges hat gesagt: ‚Endlich!‘ Denn sie trug jahrzehntelang traumatische Erlebnisse, Verletzungen und Verluste mit sich herum, die eben nicht Bestandteil der kollektiven Erinnerung waren – so wie die Millionen Vertriebenen und darunter die vielen Frauen aus den Ostgebieten, die während des Krieges und auf ihrer Flucht nach Westen vergewaltigt wurden.“

Erbitterte Historikerdebatte

Ruinenlandschaft in
der Hamburger Innenstadt:
Die Menschen
gehen 1943 durch die
trümmergesäumten
Straßen. Im Hintergrund
ist das Pressehaus
am Speersort zu
sehen (von Norden
aus der Straße Ida-Ehre-Platz
betrachtet)
Ruinenlandschaft in der Hamburger Innenstadt: Die Menschen gehen 1943 durch die trümmergesäumten Straßen. Im Hintergrund ist das Pressehaus am Speersort zu sehen (von Norden aus der Straße Ida-Ehre-Platz betrachtet) © Getty Images/Keystone

Für die andere Hälfte der Leser wurden die Bomber „als himmlische Heerscharen erachtet, die am deutschen Volk eine gerechte Strafe vollstreckten“. Für all das, was es den russischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern angetan hatte, und erst recht den Juden. Friedrich: „Das haben mir gegenüber vornehmlich Philosophen und Theologen vertreten. Diese ,Strafe‘ wurde mit jedem Angriff in ein zufälliges Todesurteil verwandelt, und diejenigen, die es dummerweise traf, hatten sie einsichtig entgegenzunehmen. Damit haben diese Kritiker jedoch ihre Mütter, Väter und sonstigen Verwandten nachträglich zum Tode verurteilt.“ Rund 650.000 Deutsche starben während der Luftangriffe.

Jörg Friedrich formuliert scharfzüngig und präzise. Er war und bleibt immer ein Provokateur, er war und ist deswegen umstritten. Einige namhafte Historiker wie der 2014 verstorbene Hans-Ulrich Wehler, ehemaliger Doyen der deutschen Gesellschaftsgeschichte, warfen ihm eine „bedenkenlose Neigung zur Emotionalisierung vor“, weil Friedrich schrieb, „die Bomberflotten seien ,Einsatzgruppen‘, brennende Luftschutzkeller ,Krematorien‘ und die Toten ,Ausgerottete‘; dann hat man sprachlich die völlige Gleichsetzung mit dem Holocaust. „Und damit bedient man schon Vorstellungen von einem Opferkult, nach dem Motto ,Wir sind doch im 20. Jahrhundert immer die Opfer gewesen‘“, so Wehler.

Der Gescholtene lässt solch harsche Kritik an sich abtropfen und geht lieber angriffslustig auf die Worte des Dresdner Oberbürgermeisters Dirk Hilbert ein, der 2017 anlässlich der Gedenkfeier zum Jahrestag der verheerenden Luftangriffe vom 13. bis 15. Februar 1945 gesagt hatte, dass „Dresden während der NS-Zeit alles andere als eine unschuldige Stadt gewesen“ sei. Jörg Friedrich zieht die Augenbrauen hoch und fragt: „Ganz Dresden oder Hamburg haben für eine Schuld gebüßt? Also selbst die getöteten Säuglinge oder die Tiere im Zoo? Beweisen solche Worte eines Oberbürgermeisters nicht, dass wir vor einer moralischen Verrohung stehen?“

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Sturm aus Feuerfunken – Teil 12

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    In keinem anderen Land sei so abschätzig über die deutschen Bomben­opfer gesprochen worden wie in Deutschland selbst. Dieses pauschale, nachträgliche Todesurteil beschreibe die Erbarmungslosigkeit und die Begriffs­losigkeit, was der Bombenkrieg als Kriegsinstrument will und soll: „Doch niemand kann die Vergangenheit des Bombenkrieges verstehen, wenn das fürchterliche Erleben der Zivilbevölkerung ausgeblendet wird – wie zum Beispiel das traumatische Erlebnis einer Mutter, die in der Nacht des Feuersturms vom 27. auf den 28. Juli 1943 durch Hammerbrook um ihr Leben rannte, während um sie herum das Inferno wütete.

    Im Arm trug sie ihr Neugeborenes, in eine Decke gewickelt. Und als es ihr wie durch ein Wunder gelang, dem Feuersturm unverletzt zu entkommen, stellte sie plötzlich fest, dass ihr das Baby aus der Decke geglitten war. In diesem Moment, als sie begreift, dass sie ihr Kind nie mehr wiedersehen wird, hört jeder geschichtliche Diskurs auf. Denn sie können keiner Mutter erklären, dass ihr Neugeborenes für den Überfall Hitlers auf Polen, Frankreich und Russland und für den Holocaust büßen soll. Für diese Frau wird daher die ‚Operation Gomorrha‘ bis an ihr eigenes Lebens­ende eine Wunde bleiben, die niemals zuheilt.“

    Sein 600 Seiten starkes Buch enthält viele solcher Einzelschicksale. „Ich hatte dabei von Anfang an vor, eine Stadt als eine Person, als ein Subjekt zu betrachten, die ein persönliches Schicksal erleidet. Im Verlauf des Bombenkrieges wendet sie sich gegen ihre Bewohner, geht unter und ist dann plötzlich nicht mehr da – so wie Würzburg, Dresden, Kassel, Heidelberg, Halberstadt, Pforzheim und große Teile Hamburgs.“

    Kriege gewinnen durch Massenausrottung

    Dennoch hält Jörg Friedrich den Erfolg der „Operation Gomorrha“ auch für einen Zufall. Für ein Zusammenwirken mehrerer Umstände, angefangen mit einer Strategie, die man mit zunehmendem Verlauf des Krieges besonders aufseiten der Engländer ändern wollte, weil sie bis dahin recht erfolglos gewesen war. „Die Alliierten hatten gemerkt, dass sie die deutsche Kriegsindustrie, die Bahnlinien, die Versorgung und die Kommunikation durch gezielte, chirurgische Eingriffe aus der Luft nicht nachhaltig zerstören konnten.“ In einem zerbombten Bahnhof fuhren nach drei Tagen schon wieder die Züge, in einer Fabrik lief trotz zahlreicher Volltreffer zumeist nach spätestens einer Woche wieder die Produktion an. „Doch um eine ganze Stadt – die Wohnungen und Häuser – wieder aufzubauen, bräuchte es mehr Menschen und mehr Arbeitskraft, die dann aus der Kriegsindustrie abgezogen werden müssten.“

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    Das versuchte die Royal Airforce vor der „Operation Gomorrha“ zum ersten Mal mit dem 1000-Bomber-Angriff auf Köln (30./31. Mai 1942) und den zwei Angriffen auf Wuppertal (am 29./30. Mai 1943 und 24./25 Juni 1943) zu erreichen, wobei es in beiden Städten erstmals vierstellige Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung zu beklagen gab. In Hamburg starben dann während des einwöchigen Bombardements vom 27. Juli 1943 an zum ersten Mal Zehntausende. „Die Stadt selbst war zur Waffe geworden“, sagt Friedrich.

    „Die Alliierten haben später immer wieder versucht, einen solchen ,Feuersturm‘ zu systematisieren, was ihnen vor allem in Pforzheim und in Dresden gelungen ist.“ Später zerstörten die Amerikaner mit Flächenbombardements mehr als 50 Prozent des Tokioter Stadtgebiets (80.000 Tote), darauf folgten die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, die jeweils weit mehr als 100.000 Tote forderten. Und von 1953 an wären mit dem Zünden einer Wasserstoffbombe auch eine Million Tote und mehr mit nur einem Angriff möglich gewesen.

    Friedrich: „Es gibt nicht diesen Moment, in dem die Militärs sagen: Hier geht es nicht mehr weiter. Das ist unser gegenwärtiges, selbstverständliches Zivilisationsniveau, mit dem die Nachkriegsgenerationen seit Jahrzehnten aufgewachsen sind. Die militärische Strategie folgt der Absicht, so lange zu bomben, bis eben alle tot sind. Krieg verschont niemanden. Das ist meiner Meinung nach die wichtigste Erkenntnis, zu der die Strategen durch die ‚Operation Gomorrha‘ gelangt sind: Man kann einen Krieg eventuell durch Massenausrottung gewinnen.“