Im August 1943 wirkt Hamburg wie eine sterbende Stadt. 900.000 Menschen haben sie verlassen – Teil 14 der Gomorrha-Serie.
Eine hohe, schnell aus Trümmersteinen improvisierte Mauer riegelt das Sperrgebiet ab. „Betreten nur mit schriftlicher polizeilicher Genehmigung erlaubt“, warnen Schilder die Menschen. Hammerbrook, zu 90 Prozent zerstört, darf niemand mehr betreten; überall droht Gefahr durch einstürzende Fassaden. Brand und Verwesungsgeruch liegt über den Straßen. Immer wieder hört man Detonationen. Hinzu kommt eine Schmeißfliegen- und Rattenplage. Ist das noch eine Trümmerlandschaft oder doch der Vorhof zur Hölle? Wer sich einen Eindruck über die Zerstörung der Hansestadt machen möchte, lese die vielen Briefe, die damals verschickt wurden und das Grauen auf Papier bannen. Gerüchte und Erlebtes vermengen sich:
„Hamburg existiert nicht mehr!! Gestern mussten die letzten Einwohner die Stadt verlassen haben!“, schrieb der Vater von Dietmar Sommer seinem Sohn in den Reichsarbeitsdienst nach Adelnau bei Posen. Oder: „Um es vorwegzunehmen, das alte Hamburg mit all seinen Schönheiten, Altertümern, Prachtbauen und Kulturstätten ist total vernichtet. Viele Tausend mögen ein qualvolles Ende gefunden haben. Verbrannt, erstickt, zerschlagen und verschüttet, und viele Tausend liegen noch unter den Trümmern. Hunderttausende sind obdach- und heimatlos geworden, haben ihre gesamte Habe verloren, zigeunern in der Weltgeschichte umher“, schrieb der Hamburger Gustav Glüsing an seine Familie im Bergischen Land.
Hannelore von Hein, die zu einer Hochzeitsfeier nach Binz gefahren war, bekam gleich mehrere Briefe von ihrem Vater, einem Eier- und Geflügelgroßhändler. Seine Postkarte am 24. Juli lautete: „Keine heile Fensterscheibe mehr. Kein Wasser! Mahlzeit: Brot mit Bier“. Fünf Tage später schrieb er: „Keine Sorge, ich bin gesund geblieben bis auf Nervenschock und Ratlosigkeit. Hamburg, wie es war, gibt es nicht mehr.“
Die tiefe Depression, die über der Stadt lag, wurde durch den Auszug der Menschen verstärkt. Ein Gewerbetreibender aus der Großen Allee, der heutigen Adenauerallee, schrieb am 21. August 1943 an Verwandte: „Es ist Sonnabendnachmittag gegen vier Uhr, wie herrlich war es sonst zum Wochenende, vor Jahren, wo noch alles gut war, jetzt möchte man heulen, wenn es nicht so unmännlich ist. So schwer ist das Herz, bisweilen denkt man, die es überstanden haben, sind besser dran. Denn was soll uns noch viel erwarten?“
Die Einwohnerzahl sank auf nur noch gut 500.000
Unmittelbar nach dem Feuersturm hatten zwischen 900.000 und einer Million Menschen die Stadt verlassen. Schon nach einigen Tagen begannen die Hamburger zurückzukehren: Ende August lebten rund 800.000 Menschen in der Stadt, die vor den Angriffen 1,42 Millionen Einwohner hatte. Die Zerstörungen waren dramatisch – aber die Menschen fühlten sich unwohl auf dem Land, sie wurden oft schlecht behandelt und spürten Heimweh – trotz der verheerenden Zerstörungen.
Von Endzeitbildern berichten die Menschen: In einem Brief von Lothar Schwieger beschreibt er einen Bummel durch die Stadt: „Ich ging zum Michel. Er steht ja noch, dacht ich, denkt ja jeder zuversichtlich hier in Hamburg. Die Fenster sind gesprungen, die Bänke mächtig verdreckt. Feuerwehrleute saßen auf dem Altar und rauchten und tranken auch Kaffee. Ein Papagei stand neben dem Altar, wohl letztes Inventar eines Geretteten.“
Ein beeindruckendes Zeitdokument ist der Brief des späteren Bischofs Volkmar Herntrich, einer der Köpfe der Bekennenden Kirche, an den Theologen von Bodelschwingh in Bethel: „Im Zug ging es zunächst bis Bergedorf, und dann mussten die letzten 30 km irgendwie bewältigt werden. Ich hatte Glück, denn ich fand gleich vorm Bergedorfer Bahnhof einen Lastkraftwagen, mit dem ich, auf Margarinekisten sitzend, mit einigen anderen nach Hamburg hereinfahren konnte ... Die erste Strecke ging unsere Fahrt normal. Rechts und links die Häuser unversehrt, und das Leben ging scheinbar seinen gewohnten Gang. Das Auffällige nur schon hier, wie auch vorher in den Zügen zwischen Büchen und Bergedorf, ein großer Ernst, der auf allen Gesichtern liegt, fast wie wenn man auch etwas von dem tiefen Erschrecken erkennen könnte, das über alle gekommen ist.
Als wir näher nach Billstedt herankamen, sahen wir die ersten Spuren der Angriffe: zerbrochene Fensterscheiben und Türen, abgedeckte Dächer. Alles aber noch in dem Maße, in dem man es auch sonst von Angriffen gewohnt ist. Und dann sahen wir fast wie mit dem Metermaß abgegrenzt das Hamburger Bild: Auf einer Karte könnte man es ganz genau einzeichnen, wo die Zerstörung beginnt: eine Zerstörung vollständig anderer Art, mit nichts von dem, was ich in Bremen, Hannover, Berlin, Kiel, Köln oder anderswo gesehen habe, irgendwie vergleichbar. Denn nun fuhren wir eine halbe Stunde lang in voller Fahrt durch Straßen, in denen nicht ein einziges Haus mehr stand, das nicht von oben bis hinab in den Keller vollständig ausgebrannt war. Horn, Hamm, Borgfelde und vor allem das riesige Arbeitergebiet im Hammerbrook, zur Rechten Wandsbek, Eilbek, St. Georg, dahinter die Uhlenhorst – soweit man sehen konnte, alles ein einziges Trümmerfeld.
Fünf Stockwerke hoch stehen noch die Fassaden. In den Kellern schwelt und brennt es weiter. In den riesigen Mietshäusern die Schornsteine wie große rauchgeschwärzte Mahnzeichen zum Himmel ragend. In den Straßen selbst verhältnismäßig wenig Verwüstung, weil Hamburg im wesentlichen Teil dem Feuer zum Opfer gefallen ist und nicht durch Sprengbomben oder Luftminen. Jedenfalls gilt das für die Außenbezirke der Stadt. In der alten Innenstadt war dann kaum selbst zu Fuß über die Trümmermassen durch die Straßen voranzukommen. In dem bekannten und so besonders schönen Stadtbild von Hamburg fehlt von den Türmen nur der Turm von St. Katharinen. Er hat sich bei dem letzten Angriff unter der furchtbaren Glut der ringsrum brennenden Altstadt wahrscheinlich selbst entzündet und ist dann in das Kirchenschiff gestürzt.
Nikolai daneben steht noch; aber das Kirchenschiff völlig ausgebrannt, ebenso der Turm, dessen gotische Fassaden aber gehalten haben. Fast völlig unversehrt steht der Michel, das einzige Bauwerk inmitten eines riesigen Trümmerfeldes. Im Wesentlichen unversehrt auch Petri und Jacobi, ebenfalls umgeben von ausgebrannten Häusern, obgleich hier infolge der massiven Bauweise von den großen Geschäftshäusern aus der Jahrhundertwende in der Mönckebergstraße und den umliegenden Straßen noch einiges erhalten blieb. Dann kam das schwerste Stück des Weges, in die eigentliche Altstadt nach St. Katharinen. Hier war es nun ganz einsam. Man hatte den Eindruck einer völlig ausgestorbenen Stadt, nichts als Ruinen und Trümmer, die Straßen zimmerhoch mit Schutt beladen ...
Wir gingen dann auf die Brücke, die das Nikolai-Fleet von dem Katharinen-Fleet trennt, und sahen hinüber auf die ausgebrannte Nikolaikirche; rechts und links die alten Häuser am Kai alle zerstört, bis auf die Grundmauern ausgebrannt. Nur aus einem Fenster – und das werde ich in meinem Leben nie vergessen – schauten in innigem Verein ein Hund und eine Katze heraus. Die Katze von diesem allen offenbar nicht besonders bewegt. Sie schnurrte leise vor sich hin. Der Hund guckte mit einem ganz ernsten Gesicht hinunter in das Fleet. Das waren die letzten „Gemeindemitglieder“ von St. Katharinen, die wir jedenfalls an diesem Sonntag antrafen.
Hamburg wird ja keine kleine Stadt werden, vielleicht 100.000–200.000 Einwohner (!). Und von den 180 Hamburger Pfarrern werden wir also noch 20– 30 brauchen. Die große Aufgabe, die jetzt vor uns liegt. Den Dienst an den verbleibenden, teils in den Kellern Wohnenden, teils nur zur Arbeit Hereinkommenden so lebendig und beweglich zu halten, dass den Menschen das Evangelium heute gesagt wird.
Pessimismus und Hoffnung wechseln sich ab
Ich musste an Hebbel denken, den bekanntlich die Schreckenserinnerung an den Großen Brand von Hamburg vor 100 Jahren nie verließ. Es ist auch dieses Mal so gewesen, dass etliche in den Schreckensnächten im Saufen und Huren vom Gericht betroffen wurden. Unwillkürlich gehen die Gedanken immer in die Zukunft. Pessimismus und Hoffnung wechseln einander ab in der Beurteilung, was aus dieser großen Stadt werden wird. Wird auf diesen Trümmern wieder eine große Stadt entstehen können? Wir müssen wohl mit Jahrzehnten rechnen.“
Diese Einschätzung war weit verbreitet. Kein Mensch konnte sich angesichts des Ausmaßes an Zerstörungen einen Wiederaufbau vorstellen. Doch ausgerechnet der Architekt Konstanty Gutschow, der bis vor Kurzem am Umbau Hamburgs zur Führerstadt gearbeitet hatte, entwickelte jetzt mit seinem Team den Wiederaufbau am Reißbrett. Dem Vergangenen trauerte der Leiter des „Arbeitsstabs für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte“ nicht hinterher: „Das Bild der Trümmer rührt uns nicht in der Seele, vielmehr lässt es nur umso deutlicher und lebendiger das Bild des zukünftigen Hamburgs, des neuen Hamburgs vor unseren Augen entstehen.“ Seine Visionen, entkernt um das Monumentale, setzten später einige seiner Mitstreiter in Hansestadt nach dem Krieg um. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Gestalter des neuen demokratischen Deutschlands auf alte Pläne zurückgriffen.
Grindelhochhäuser waren Zukunftsmodell
Die sogenannte aufgelockerte Stadt mit ihrer Trennung nach Wohnen, Arbeiten und Einkaufen ist durchaus als Echo auf Bombenkrieg und Feuersturm zu verstehen. Hochhäuser, unterbrochen von Grünflächen, sollten die Metropolen „bombensicher“ machen. Die Grindelhochhäuser – in der Einflugschneise der „Operation Gomorrha“ errichtet – stehen durchaus Modell für diese Sichtweise. Auch der Klinker ist nicht zufällig hell, sondern orientiert sich an der skandinavischen Moderne. Der rote Backstein war durch Neuengamme kontaminiert: In dem Konzentrationslager im Südosten schufteten die Häftlinge in den Tongruben für das neue Hamburg. Rund 50.000 Inhaftierte überlebten diese Tortur nicht.
Auch sonst zogen die Architekten ihre Konsequenzen aus dem Bombenkrieg: Die brennenden Treppenhäuser, Zwischendecken und Dächer hatten sich in den Köpfen „eingebrannt“. Fortan dominierte Beton. „70 Jahre haben wir gebraucht, um wieder mit Holz zu bauen. Das ist ein deutsches Syndrom“, sagt auch Volkwin Marg.
Hälfte der Wohnungen waren zerstört
Am Ende des Krieges waren in Hamburg 52 Prozent der Wohnungen zerstört oder unbewohnbar. Über 80 Prozent dieser Schäden verursachten die Angriffe der „Operation Gomorrha“ binnen zehn Tagen zwischen dem 25. Juli und dem 3. August 1943. Bis heute sind in der Stadt die Narben des Weltkrieges erkennbar. In manchen Vierteln muss man sie schon suchen, in anderen, gerade im Osten, sind sie noch lange unübersehbar. Die alten Arbeiterstadtteile Hammerbrook oder Rothenburgsort blieben als Industrie-, Gewerbe- und Bürostandort für Jahrzehnte entvölkert. Erst in den vergangenen Jahren entdeckt die Stadt ihre traditionsreichen Stadtteile neu und siedelt sich dort wieder an. 75 Jahre nach der „Operation Gomorrha“ kehrt das Leben zurück.
"Uns Kindern war klar, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen ist"
Peter Schütt, Jahrgang 1934: Mein Vater hatte am Tag vor der „ Operation Gomorrha“ seinen letzten Urlaubstag, mein Onkel war noch im Genesungsurlaub. Wir haben einen Ausflug nach Hagenbeck gemacht und haben uns dann am Abend an der Bundesstraße verabschiedet – ich wusste nicht, wann und ob ich meinen Vater wiedersehen würde. In dieser Nacht schlief ich bei meinen Großeltern in Altona. Stundenlang harrten wir im Keller aus, der Putz rieselte von der Decke. Als wir nach Stunden aus dem Keller kamen, lag die Stadt schwarz da. Es wurde gar nicht mehr hell, die Sonne schien nur blassrot durch den Rauch.
Es gab kein Gas mehr, es gab kein Wasser mehr. Aber dann kam mein Vater gegen Mittag – er hatte Urlaubsverlängerung bekommen. Wir gingen dann durch das zerstörte Hamburg, die Bilder haben sich mir tief eingebrannt: Am Schulterblatt lagen die Trümmer meterhoch auf der Straße, der Schanzenbahnhof, der bis zu dieser Nacht ein Glasdach wie der Dammtorbahnhof gehabt hatte, stand wie ein nacktes Gerippe da. Ein Signalmast war auf die Straße gestürzt. Wir gingen weiter bis zur Moorweide: Dort saßen die Ausgebombten mit ihren Habseligkeiten auf dem Rasen. Eine große Versorgungsstation war aufgebaut. Auch am Tage wurden weitere Angriffe geflogen, aber die Bunker haben keinen mehr reingelassen. Ich erinnere noch, dass die Stimmung nach den Angriffen unglaublich gedrückt war. Uns Kindern war klar, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Aber laut durfte das keiner sagen.