Hamburg. Die Stadt galt als „Rote Festung“, aber die Nazis machten Hamburg zur Rüstungsmetropole. Teil 2 der Abendblatt-Serie zum 75. Jahrestag.
Die Plakate waren deutlich. „Geht nicht nach Hamburg“, stand da zu lesen. Sie hingen in vielen deutschen Arbeitsämtern – und warnten vor der hohen Arbeitslosigkeit in der Hansestadt. Die Plakate stammen aus dem Jahr 1935. Da war Hitler schon mehr als zwei Jahre an der Macht – doch der Wirtschaftsaufschwung, für den sich der „Führer“ so gern feiern ließ, war in Hamburg noch nicht so recht angekommen.
Hamburg war in den 30er-Jahren eher eine Krisenregion als eine boomende Stadt. Die Einwohnerzahl sank von 1930 bis 1937 um rund 50.000 auf noch knapp 1,1 Millionen. Und Hamburger erholten sich deutlich langsamer von der 1929 ausgelösten Weltwirtschaftskrise als der Rest des Reichs. Das lag an der besonders auf den Handel ausgerichteten Struktur – und an der Politik der Nazis: Hitler plante von Beginn an für den Krieg und wollte ein autarkes, also von Importen möglichst unabhängiges Reich. Das musste den größten deutschen Hafen natürlich besonders treffen. Noch bis 1938 war Hamburg hochoffiziell „wirtschaftliches Notstandsgebiet“.
Bis 1938 galt Hamburg als wirtschaftliches Sorgenkind
Das veranlasste die neuen Herrscher, in Hamburg besondere Beschäftigungsprogramme aufzulegen, deren Wirkung zunächst aber weitgehend verpuffte. Hamburg blieb ein Sorgenkind. Die Stadt hatte bei vielen Nazis ohnehin den Ruf, problematisch zu sein, galten die Arbeiter hier doch als besonders aufrührerisch. 1934 schien sich das zu bestätigen, als Hitler eine Volksabstimmung ansetzte.
Nach dem Tod von Reichspräsident Paul von Hindenburg wollte der Reichskanzler auch dieses Amt und dessen Befugnisse übernehmen. Zwar stimmte dem in Hamburg eine klare Mehrheit zu – doch der Anteil der Nein-stimmen war mit 20 Prozent doppelt so hoch wie im Reichsdurchschnitt. Gau-leiter Karl Kaufmann, ein glühender Hitler-Verehrer, der später die Judendeportationen in die Todeslager forcierte, sprach von der „größten Enttäuschung meines Lebens“.
War Hamburg also eine Stadt mit eher wenig Rückhalt für die Nazis? Gar ein Hort des Widerstands? Keineswegs. So gern derlei Legenden auch nach dem Krieg gesponnen wurden, historisch haltbar ist das nicht. Die Machtübernahme gelang in Hamburg genauso reibungslos wie sonst auch. Der Triumph der Nazis war eher noch größer, weil viele damit gerechnet hatten, dass die „Rote Festung“ Widerstand leisten würde. Doch trotz aller vollmundigen Ankündigungen von SPD und KPD, die auch im Februar 1933 noch Hunderttausende Anhänger in Hamburg hatten, fügten sie sich erstaunlich rasch. Selbst in den Arbeitervierteln hingen bald massenhaft Hakenkreuzflaggen – auch wenn manche sicherlich nur ihre Ruhe haben wollten und tatsächlich ihren Überzeugungen treu blieben. Der Volksmund nannte sie „Beefsteaks“: außen braun und innen rot.
Wenn Hitler in der Stadt war, wurde er von den Massen frenetisch gefeiert. So sehr, dass die (natürlich längst gleichgeschalteten) Zeitungen berichten konnten, dass die Stimmung in Hamburg „noch euphorischer“ sei als in Berlin. Auch dass Hitler Hamburg eher gemieden habe, ist eine Legende: Mindestens 33 Besuche in der Stadt sind verbürgt, alle bis 1939.
Judenhass gehörte auch in Hamburg zum Alltag
Manche sind sicherlich geblendet worden, viele haben sich gerne blenden lassen und schauten weg. Was für ein Regime da am Werke war, darüber wurde aber niemand in Zweifel gelassen. Auch in Hamburg gab es schon 1933 Massenverhaftungen von Oppositionellen, vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten; es wurden öffentlich Bücher verbrannt (in Hamburg gleich viermal), jüdische Geschäfte boykottiert, Linke und Liberale verloren bei der Polizei, an den Schulen und Universitäten ihre Arbeit. Wenn Hamburg sich gelegentlich einen liberaleren Anstrich gab, dann hatte das wirtschaftliche Gründe. So verlief die „Arisierung“ jüdischer Unternehmen in Hamburg zunächst langsamer – das Regime fürchtete wegen der weltweiten Vernetzung der Hamburger Handelsunternehmen schlechte Presse im Ausland und Boykottaufrufe, die man sich wegen der angespannten Lage nicht leisten wollte. Doch von 1938 an wurde alles umso schneller „nachgeholt“.
Antisemitismus gehörte in Hamburg längst zum Alltag, auch in der Werbung. „Die rein arische Fabrik in Eimsbüttel“, warb der Hautcreme-Produzent Queisser in Anspielung auf den jüdischen Nivea-Erfinder Oscar Troplowitz. „Wer Nivea kauft, unterstützt eine Judenfirma“, lautete ein anderer Slogan. Von 1935 an gab es am Landgericht eigens eine „Blutschutzkammer“, die 390 Verfahren wegen „Rassenschande“ verhandelte – ein Rekordwert. Nur wenige zeigten öffentlich Haltung, wie etwa der Bankier Cornelius von Berenberg-Gossler, der vielen Juden half und sich demonstrativ mit jüdischen Freunden in der Öffentlichkeit zeigte.
Von 1938 an herrschte auch in Hamburg Vollbeschäftigung, vor allem wegen der Rüstungsprogramme. Der Lebensstandard der Arbeiter und kleinen Angestellten blieb aber niedrig, denn die Reallöhne sanken. Bescheidenheit wurde propagandistisch überhöht, auch mit Skurrilitäten wie dem „Eintopftag“, einem Sonntag, an dem auch Parteibonzen lächelnd und Suppe löffelnd in die Kameras grinsten. Auf diese Weise wurde der Konsumgütersektor geschwächt, aber auch die Inflationsgefahr geringer, die sonst wegen der massiven Schuldenerhöhung der öffentlichen Haushalte unvermeidlich geworden wäre.
Hamburgs Wirtschaft erlebte in diesen Jahren eine weitgehende Umgestaltung. Aufrüstung und Autarkiepolitik stärkten einseitig die Industrie und vor allem Großbetriebe und spätestens mit dem „Groß-Hamburg-Gesetz“ 1937 (Altona, Wandsbek und Harburg wurden eingemeindet) wurde Hamburg zur Industriemetropole. Das führte nach Kriegsbeginn dazu, dass sich viele der schwächelnden Handelsfirmen besonders in den eroberten Ostgebieten „engagierten“, sich also an der brutalen Ausbeutung von Polen und Russen beteiligten.
Kinder und Jugendliche wurden indoktriniert
Doch in der Zeit vor dem Krieg war der „Rückzug ins Private“ für viele eine gern genommene Option, freilich nur für diejenigen, die Teil der „Volksgemeinschaft“ waren – also nicht für Juden, Slawen, Sinti, Roma, Homosexuelle, Linke, Liberale oder „Drückeberger“. Doch auch für „Volksdeutsche“ hatte dieser Rückzug im NS-Staat enge Grenzen, zu sehr drang das Regime in alle Lebensbereiche vor.
Das galt vor allem für Kinder und Jugendliche, die in der Schule, bei der Hitlerjugend, dem Bund Deutscher Mädel oder in den Sportvereinen täglich indoktriniert wurden. Das „Blockwartsystem“ war in Hamburg besonders ausgeprägt, es wurde genau beobachtet, wann Hakenkreuzfahnen aus den Fenstern hingen, wer nicht mit „Heil Hitler“ grüßte oder Spenden verweigerte – denn es wurde ständig gesammelt, ob nun für das Winterhilfswerk oder zum „Führer-Geburtstag“.
Der Alltag änderte sich natürlich dramatisch mit dem Kriegsbeginn, auch wenn Hamburg zunächst nicht direkt von den Kriegshandlungen betroffen war. 1939 tauchten zwar britische Flugzeuge über Hamburg auf, sie warfen aber nur Flugblätter ab. Eine Aktion, die der spätere Luftmarschall Arthur Harris mit den Worten kommentierte: „Wir haben den Kontinent mit Gratisklopapier versorgt.“
Die ersten Luftschutzkeller wurden schon 1933 gebaut
Aber allen war klar, dass es Angriffe geben würde. Die „Luftschutz-Propaganda“, die schon 1933 mit dem Bau der ersten Schutzkeller begonnen hatte, wurde jetzt massiv ausgeweitet. Der Bunkerbau begann, und die Bevölkerung wurde angewiesen, bestimmte Regeln einzuhalten, etwa Eimer mit Wasser oder Sand aufzustellen. „In den ersten Kriegsjahren gab es häufig Vorführungen der Feuerwehr im Stadtpark. Die wollten uns beruhigen und erklärten, wie leicht es doch sei, ein Feuer zu löschen“, erinnert sich Arnold Rüting, Jahrgang 1935, der damals in Winterhude lebte.
Viel einschneidender waren zunächst die Einberufungen: Bis Frühjahr 1941 waren es 100.000 Hamburger, die zur Wehrmacht mussten. Das machte viele Frauen zu Alleinerziehenden, gleichzeitig herrschte akuter Arbeitskräftemangel, der immer mehr mit Zwangsarbeitern ausgeglichen wurde (siehe Teil 13 der Serie). Doch die Versorgungslage der Zivilbevölkerung blieb vergleichsweise gut (besser etwa als in weiten Teilen Großbritanniens), darauf legte das Regime nach den katastrophalen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg besonderen Wert – damals waren Hunderttausende verhungert oder wegen der Mangelernährung an Krankheiten gestorben. Den Preis für diese Versorgung hatten von Anfang an die Bewohner der eroberten Länder zu zahlen, vor allem Polen und später Russen, die gnadenlos ausgebeutet wurden.
1940 wurden Luftangriffe auf Hamburg zur Regel: 70 gab es allein in diesem Jahr, im Schnitt alle fünf Tage einen. Doch es waren eher kleine Angriffe, die Schäden und die Zahl der Opfer (insgesamt 125 Tote) blieben gering. Bombenschäden waren eine „Attraktion“, die viele Schaulustige anlockten. Diese Tatsache und die Propaganda, die versprach, Hamburg verteidigen zu können, spielten aber auch einer gewissen Sorglosigkeit in die Hände, die sich breitmachte, obwohl 1941 und 1942 die Angriffe schwerer wurden. Manche hofften auch auf die Wirkung der vielen Camouflage-Aktionen: So wurde etwa die ganze Alster als Wald getarnt, um die Stadt entstanden Industriebetriebe aus Pappmaschee, um die Angreifer zu täuschen – das alles sollte sich als völlig nutzlos herausstellen.
Applaus, als Juden deportiert wurden
Im Laufe der Jahre 1941 und 1942 änderte sich mit dem Überfall auf die Sowjetunion die Lage grundsätzlich. Nach den überraschend schnellen Siegen zu Beginn des Krieges war der Feldzug vor Moskau zum Stehen gekommen, außerdem hatte Hitler den USA den Krieg erklärt. Massenhafte Einberufungen waren die Folge, die Bombenangriffe auf Hamburg wurden stärker. Und auch den Blindesten offenbarte sich der menschenverachtende Charakter der NS-Herrschaft. Im Oktober 1941 wurden in aller Öffentlichkeit Tausende Juden vor dem Logenhaus an der Universität zusammengetrieben und deportiert (nicht wenige Passanten standen dabei und applaudierten). Das war übrigens nicht von „oben“ angeordnet, sondern von Gauleiter Karl Kaufmann organisiert worden, der selbst die Initiative ergriffen hatte.
Spätestens nachdem die 6. Armee in Stalingrad im Februar 1943 kapituliert hatte, muss vielen, wenn nicht den meisten klar gewesen sein, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. Kurz darauf propagierte Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast den „totalen Krieg“. Am 24. Juli sollte er Hamburg erreichen.
15 Jahre lang, von 1918 bis 1933, war die SPD in verschiedenen Koalitionen an den Senaten Hamburgs beteiligt, die Stadt galt als „Rote Festung“. Rund die Hälfte der Bevölkerung stand auch im Februar 1933 – nach der Machtübernahme der Nazis in Berlin – hinter SPD oder KPD, dennoch konnten die Nationalsozialisten letztlich fast widerstandslos die Macht in der Hansestadt an sich reißen. Die Kommunisten sahen die SPD noch immer als den Hauptfeind und waren nicht zur Zusammenarbeit bereit, die SPD wollte das ohnehin nur zu ihren Bedingungen.
Die sozialdemokratischen Senatoren verfolgten einen strikten Legalitätskurs gegenüber der neuen Nazi-Regierung in Berlin und wollten kein Eingreifen der Reichsregierung provozieren. Das Verbot kommunistischer Zeitungen und Demonstrationen trugen sie mit. Die SPD sagte sogar eine eigene Großveranstaltung für den 3. März 1933 (zwei Tage vor der Reichstagswahl) ab, weil Hitler in der Stadt war. So war der oft vollmundig beschworene „blutige Widerstand“ gegen den Faschismus nicht möglich. Als die Berliner Reichsregierung schließlich verlangte, die SPD-Zeitung „Echo“ zu verbieten, setzten sich die Senatoren nicht zur Wehr. Selbst umsetzen konnten sie das Verbot freilich auch nicht – also traten die SPD-Senatoren geschlossen zurück. Die Nazis machten daraufhin den Reeder und parteilosen Hitler-Verehrer Carl Vincent Krogmann zum Bürgermeister. Bald darauf wurden KPD, SPD und Gewerkschaften verboten. Die „Rote Festung“ hatte nicht gekämpft, sondern sich ergeben.
Der Zeitzeuge
Arnold Rüting erlebte den Sommer 1943 als Achtjähriger. Vor der dritten großen Angriffswelle auf Barmbek/Winterhude war seine Familie zu Verwandten nach Schenefeld geflohen. Schnell kehrten sie danach ins entvölkerte Hamburg zurück, während die meisten Kinder für den Rest des Krieges aufs Land geschickt wurden. „Wir wohnten in Winterhude, der ,Bratenfresser-Gegend‘, wie wir sie nannten, denn dort standen die Villen der Reichen, die täglich Fleisch essen konnten. Sie waren nicht zerstört worden, und wir glaubten, das sei Absicht gewesen.
Rüting war Funkmelder im Bunker Dorotheenstraße und gab die Radiodurchsagen weiter. „Immer wenn es Meldungen gab, bin ich losgerannt in die verschiedenen Stockwerke und habe alle informiert. Das hat mir irgendwie die Angst genommen.“ Die Ankunft der Engländer im Mai 1945 hat er als Befreiung empfunden: „Da gab es keinen Hass.“
Die Angriffe aber haben ihn tief geprägt: „Noch heute allerdings bekomme ich immer ein mulmiges Gefühl, wenn ein Bagger in die Erde gräbt. Jedes Mal habe ich Angst, er könnte gleich auf einen Blindgänger stoßen, der dann explodiert.“