Hamburg. Sie tauschten „Akademiker-Blase“ gegen Hochhaussiedlung. Und haben es nicht bereut. Was die Morgenthalers in der Lenzsiedlung erleben.

  • Hamburger Familie zog bewusst in die Lenzsiedlung in Lokstedt.
  • 60 Kulturen leben in der Hochhaussiedlung – einmal im Jahr gibt es ein Fest.
  • Familie Morgenthaler lebt seit 13 Jahren in der Lenzsiedlung: „Es ist ein vertikales Dorf.“

An den Anruf von der Saga kann sich Katja Morgenthaler noch gut erinnern. Sie war damals mit ihrem ersten Kind schwanger und suchte mit ihrem Mann dringend eine größere Wohnung in Hamburg. Zu der Zeit lebten sie in einer kuscheligen Dachgeschosswohnung mit zwei Zimmern, in einer klassischen Altbaugegend in Eimsbüttel.

Auf eine Rückmeldung der Saga, wo sie sich um eine Wohnung beworben hatten, warteten sie lange. Als der Anruf dann endlich kam, wunderte sich Morgenthaler, dass die Frau am anderen Ende der Leitung so zögerlich herumdruckste. Schließlich sagte sie: „Wir hätten da eine Wohnung für Sie. Aber die ist in einem Hochhaus. In der Lenzsiedlung.“

Wohnung Hamburg: Lenzsiedlung – „Hochhaus? Das schockt mich nicht!“

Es habe geklungen, als wäre es der Saga-Mitarbeiterin unangenehm gewesen, ihnen – zwei Journalisten und Akademikern – einen Plattenbau anzubieten, erinnert sich Morgenthaler. Aber die damals 32-Jährige reagierte anders als erwartet. „Hochhaus? Das schockt mich nicht“, sagte sie in dem Gespräch. „Ich komme schließlich aus der DDR.“

Wenige Tage nach dem Anruf sagte das Ehepaar zu. 13 Jahre ist das nun her. Seitdem leben Katja und Jonas Morgenthaler in der Lenzsiedlung, die formal zwar zu Lokstedt gehört, aber gefühlt mitten in Eimsbüttel liegt – inzwischen mit zwei Kindern. Die Entscheidung für die Lenzsiedlung haben sie bewusst getroffen. Und sie haben damit in Kauf genommen, dass sie ihre „Akademiker Blase“ gegen ein migrantisches Umfeld mit relativ hoher Erwerbslosenquote und prekären Arbeitsverhältnissen tauschen würden. Oder wie die Morgenthalers lieber sagen: „Gegen das echte Leben.“

Reportage Lenzsiedlung
Vor 50 Jahren wurde der Grundstein für die Lenzsiedlung in Hamburg-Lokstedt gelegt. Mehr als 3000 Menschen aus rund 60 Kulturen leben heute hier. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Lenzsiedlung in Hamburg-Lokstedt: „Wir wurden warm empfangen“

Ganz einfach gemacht haben sie sich die Entscheidung nicht. Gegen die Wohnung an sich hatten sie zwar nichts einzuwenden – sie war günstig, hell und die Aufteilung familienfreundlich – aber: Man hörte ja doch so einiges über die Lenzsiedlung. Hohe Kriminalität, Ghetto, schweres Pflaster. Aber auf das, was man so sagte, wollten sie sich nicht verlassen.

Stattdessen setzten sie sich auf eine Bank im Innenhof der Lenzsiedlung – Katja Morgenthaler mit dickem Schwangerschaftsbauch – und beobachteten einen Abend lang, was so los war im vermeintlichen Ghetto. Ob sie hier ihr Kind aufwachsen lassen wollten. Wie es war? „Im Grunde war es ziemlich langweilig“, so die heute 45-Jährige. „Hier wohnen halt auch viele Familien, die abends einfach zu Hause sind und ihre Kinder ins Bett bringen. Uns ist jedenfalls nichts aufgefallen, was dagegen sprach, es einfach zu versuchen.“

Und das taten sie dann auch. Und das Erste, was sie überraschte, war: „Wir wurden warm empfangen, und schnell fieberte das ganze Haus mit, ob die Küche oder das Baby zuerst kommen würde“, erinnert sich Katja Morgenthaler. Schließlich kam beides ungefähr zeitgleich, und selbst die vermeintlich supercoolen Jungs der Lenzsiedlung, die immer auf dem Hof abhingen, wollten unbedingt das Baby sehen. „Es war das Gegenteil von dem Klischee der Hochhaus-Anonymität.“

Leben im Plattenbau: Hier treffen vegane Waffeln auf Dönerfleisch

Dass hier rund 60 Kulturen leben, fanden sie von Anfang an spannend. Vom Balkon aus konnten sie zum Beispiel schon oft Festgesellschaften beobachten, die von hier aus aufgebrochen sind. Ganz nebenbei habe man so auch einiges über landestypische Bekleidung und Gebräuche gelernt. Gern erinnern sie sich auch an das Suppen-Fest im Hof. „Da haben Mieterinnen und Mieter Suppen aus aller Welt gekocht – und alle konnten probieren.“

Und wenn beim großen Nachbarschaftsfest, das in der Lenzsiedlung einmal im Jahr ausgerichtet wird, direkt nebeneinander Dönerfleisch und vegane Waffeln verkauft werden, sei das ein sicheres Zeichen dafür, dass hier vieles gut läuft, sagt Morgenthaler.

Aber natürlich gebe es auch die andere Seite. „Hier gibt es schon auch eine Gruppe, die definitiv mit dem Thema Arbeit abgeschlossen hat“, sagt Jonas Morgenthaler. „Und auch solche, die einfach richtig hart arbeiten müssen, damit es zum Leben reicht.“

Lenzsiedlung in Hamburg: „Kindern lernen, dass es nicht allen gleich gut geht“

Und es habe auch Situationen gegeben, in denen sie sich fremd gefühlt hätten. Katja Morgenthaler erinnert sich etwa an das Elternfrühstück, das drüben im Bürgerhaus angeboten wurde. „Ich bin da hingegangen, weil mir wie vielen jungen Mütter auch manchmal die Decke auf den Kopf gefallen ist.“ Es sei wirklich schön gewesen und sie habe sich gut aufgehoben gefühlt, sagt Morgenthaler. Aber trotzdem sei da dieses Gefühl gewesen, dass die Welten für einen echten Zugang untereinander vielleicht doch zu unterschiedlich sind.

„Es waren auch minderjährige Mütter dabei und viele, die einfach ganz andere Probleme hatten als ich. Und die sich vielleicht gefragt haben, was ich dort eigentlich mache“, erinnert sich Katja Morgenthaler. Eine entscheidende Rolle spiele das für sie aber nicht. „Viel bedeutender ist, dass hier einfach ein friedliches Miteinander möglich ist – auch wenn man unterschiedlich ist.“

Wie so oft, seien es auch die Kinder, die vorleben, wie es geht. Für Morgenthalers Kinder, den zwölfjährigen David und die siebenjährige Martha, ist das Umfeld ganz normal. „Sie wachsen damit auf, dass es nicht allen gleich gut geht. Sie wissen, dass hier viele Kinder kein eigenes Zimmer haben, haben in der Pandemie gesehen, dass nicht jede Familie noch ein iPad fürs Homeschooling aus der Schublade zaubern kann. Und sie sehen, dass sich manche wegen der Sprachbarrieren schwerer tun in der Schule“, sagt Jonas Morgenthaler.

Hochhaus-Idylle: Kinder finden Ersatz-Großeltern in der Lenzsiedlung

Für sie spiele das keine Rolle. „Es sind ja schließlich ihre Freunde. Und dann hilft man sich eben“, sagt der 45-jährige Familienvater. Auch seine Kinder lernten schließlich von den anderen. „Viele Kinder, die hier leben, sind schon sehr früh selbstständig.“

Was ihm noch aufgefallen ist: Die „unsichtbare Wand“, die es hier früher zwischen der Lenzsiedlung und der Nachbarschaft gegeben habe, sei kleiner geworden. „Es kommt mehr und mehr zur Durchmischung“, sagt Jonas Morgenthaler. Der neue Skatepark in der Lenzsiedlung sei zum Beispiel so beliebt, dass auch Menschen aus der Sternschanze und anderen Stadtteilen jetzt häufiger kämen. Auch der Faktor, dass die Mietpreisbindung ausgelaufen ist und auch ohne Berechtigungsschein vermietet wird, spiele sicher eine Rolle.

Das ganz große Glück für die Morgenthalers: Die Kinder haben in der Lenzsiedlung nicht nur jede Menge Freunde, sondern auch Ersatz-Großeltern gefunden – die „echten“ Großeltern leben Hunderte Kilometer entfernt. Gleich von Anfang an hätte sich das nette ältere Ehepaar von nebenan rührend um die Kinder gekümmert. „Sie sind sehr fürsorglich, stellen zum Nikolaus etwas vor die Tür oder passen auf die Kinder auf, wenn wir Unterstützung brauchen.“

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Ob die Morgenthalers trotz der unverhofften Hochhaus-Idylle manchmal wünschten, sie hätten damals einen hübschen Altbau gefunden, mit Dielen, Stuck und hohen Wänden? „Ja“, sagen sie. „Besonders, wenn wir im Urlaub mal in einer großen Altbauwohnung untergekommen sind. Oder wenn wir uns nach einem Natururlaub mit echten Bergen erst wieder mit unseren Beton-Felsen anfreunden müssen.“ Ans Ausziehen hätten sie dennoch nie ernsthaft gedacht.

Im Gegenteil: Ganz aktuell haben sich die Morgenthalers quasi zum zweiten Mal für die Lenzsiedlung entschieden. Weil ihre Kinder inzwischen so alt sind, dass sie ihnen jeweils ein eigenes Zimmer einrichten wollten, hatten sie nach einer größeren Wohnung geschaut. Schließlich zogen sie innerhalb der Lenzsiedlung um.

Im Unterschied zum ersten Mal wussten sie ja, was sie erwartet: Feste und Rituale. Nachbarn, die zu Freunden geworden sind und auf die man zählen kann. Kinder, die einfach rausflitzen und mit den anderen draußen spielen. „Im Grunde ist es ein Dorf“, sagt Katja Morgenthaler. „Ein vertikales Dorf.“